Ein Gespräch mit Paul Köppler über Ruth Denison

Paul Köppler ist Organisator und Meditationslehrer bei buddhistischen Seminaren. Er ist Autor mehrerer Bücher, welche die Lehre des Buddha in einer modernen und zeitgemäßen Sprache präsentieren. Von 1999 bis 2001 war er stellvertretender Sprecher der Deutschen Buddhistischen Union, dem Dachverband der Buddhisten in Deutschland. 1984 gründete Paul Köppler den Verein „Buddhismus im Westen“, der bald darauf ein eigenes Seminarhaus erwarb, das Waldhaus am Laacher See. Darüber hinaus betreibt er das buddhistische „Haus Siddhartha“ in Bonn-Bad Godesberg. Paul Köppler steht in der Tradition von Godwin Samararatne und Ruth Denison und ist außerdem Mitglied im Intersein-Orden von Thich Nhat Hanh.

3 schätze: Lieber Paul, über jemanden wie Dich, der schon so lange als buddhistischer Lehrer unterwegs ist und geschätzt wird, ist schon viel geschrieben und (nicht nur) im Internet veröffentlicht worden. Ich möchte dieses Interview daher gerne speziell dazu nutzen, von Dir als Nachfolger von Ruth Denison, einer der ersten buddhistischen Lehrerinnen im Westen, etwas über ihre Art und Weise zu lehren und ihren Einfluss zu erfahren.

Paul Köppler: Ruth war meine erste Lehrerin auf dem buddhistischen Weg der Meditation. Es war genau ihr Wesen, das mich faszinierte. Es war aber nichts Abgehobenes, sondern das sehr Bodenständige und dennoch Leichte an ihr, das Liebevolle, das auch streng sein konnte und ihre Anteilnahme. Für mich war sie von Anfang an mehr wie eine ältere, weise Freundin, ein bisschen verrückt, auf jeden Fall völlig anders als meine Vorstellungen von einer Dhamma-Lehrerin waren. Allein wie sich kleidete, immer elegant aber etwas altmodisch, wie sie sich bewegte, wie sie immer wieder die Stille in der Meditation mit Anweisungen unterbrach, wie sie aus einer Gehmeditation einen Tanz machte, das war alles überraschend, manchmal verwirrend, aber immer lebendig und heiter. Am meisten beeindruckte mich, wie sie mit unendlicher Geduld für alle Übenden da war und die Lehre mit einfachen Worten auf den Punkt brachte. Und sie hatte außerdem eine unglaubliche Beobachtungsgabe und Einfühlungsvermögen. Ich habe auch viel Zeit mit ihr außerhalb der Seminare verbracht und gesehen, dass sie keinen Unterschied machte zwischen Kursen und Alltag. Durch ihre Art lehrte sie ganz besonders in und mit den alltäglichen Situationen.

Für mich persönlich ist es von großer Bedeutung, dass sie auf meinem Weg bei fast allen entscheidenden Situation mit ihrer Weisheit beteiligt war.

3 schätze: Vor einiger Zeit konnten wir, im Rahmen des Netzwerk Buddhismus in Bonn, den Dokumentarfilm „Der lautlose Tanz des Lebens“ der Regisseurin Aleksandra Kumorek sehen, an dem Du ja ebenfalls mitgewirkt hast. Kannst Du uns ein wenig zur Entstehung des Films sagen?

Paul Köppler: Die Filmemacherin Aleksandra hatte von Annabelle Zinser, von mir und anderen viel von Ruth gehört. Das war zu einer Zeit, als Ruth nicht mehr die Reisen nach Europa machen konnte. So entschloss sie sich, in ihr Zentrum Dhamma Dena in Kalifornien zu gehen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Aleksandra fuhr dann noch insgesamt viermal hin und filmte immer wieder. Ich habe ihr auch meine Erlebnisse mit Ruth erzählt und sie auf die besonderen Qualitäten dieser Lehrerin aufmerksam gemacht. Daraus entstand dann der berührende Film von ihren letzten Lebensjahren.

3 schätze: Ruth Denison brachte einen neuen, weiblichen und körperbezogenen Ansatz in die buddhistische Praxis ein, als dies noch ziemlich ungewöhnlich war. Sie leitete das allererste buddhistische Frauen-Retreat und führte Bewegungsübungen und Techniken des Sensory Awareness in die buddhistische Meditationspraxis ein. In wie weit hat sie Deine Art zu unterrichten geprägt?

Paul Köppler: Ich bin sicher, dass meine Art zu unterrichten in vielem eine Fortsetzung von Ruths Stil ist. Da ist der Einbau und die Wichtigkeit von Körper- und Spürübungen. Da sind weiter die große Flexibilität und Kreativität und die spontanen Einfälle. Da ist sicher auch der feine Humor und die Lust am Erzählen von Geschichten, auch aus dem eigenem Leben. Und da ist vor allem die Fürsorge und das Wahrnehmen jedes/jeder Teilnehmer*in. Ruth war erst zufrieden, wenn sie bei einem Retreat den Eindruck hatte, alle mit ins Boot geholt zu haben. Dabei hat mich sehr ihre Fähigkeit beeindruckt, mit Widerständen, Ablehnung und auch mit verwirrten Geistern umzugehen und sie sanft auf den rechten Weg zu bringen.

Waldhaus am Laacher See

3 schätze: Das Waldhaus am Laacher See bietet ja ein wirklich umfangreiches Jahresprogramm. Ihr bietet Retreats verschiedenster Lehrer*innen aus Vipassana und Zen aber auch Yoga und Qi Gong an. Im kommenden Jahr wird es auch einen „Zen & Sensory Awareness“ Workshop mit Stefan Laeng geben, auf den ich mich schon jetzt sehr freue. Sensory Awareness erscheint mir hierbei als eine weitere Schnittstelle, denn Ruth Denison war ja ebenfalls Schülerin von Charlotte Selver…

Paul Köppler: Ruth hat oft erzählt, wie sie in dieser Zeit des spirituellen Aufbruchs in ihrem Haus in Los Angeles mit ihrem Mann Henry mit dem bekannten Größen wie Erich Fromm, Allan Watts, Ram Dass u.a. lebte und arbeitete. Da lernte sie auch die Arbeit von Charlotte Selver kennen und lieben. So fand sie den Zugang zur Spiritualität, zunächst weniger durch Lehren, jedoch mehr über die Arbeit mit dem Körper. Als sie später in Burma die Vipassana-Meditation lernte und die Erlaubnis bekam zu unterrichten, war es ganz selbstverständlich für sie, dass sie entgegen den asiatischen Tradition des Buddhismus die körperbezogenen Ansätze in ihre Kurse einbaute.

Tatsächlich ist ja dieses heilsame Erwecken der Gefühle und die Sensibilität für den Körper etwas, das wir auch in den Anweisungen des Buddha finden. Erst wenn wir unseren Körper und den Atem wirklich wahrnehmen und damit verbunden sind, öffnen wir uns für die höheren Ebenen des Seins.

3 schätze: Herzlichen Dank für das Gespräch.

Infos:

Bücher:

Sandy Boucher: Ruth Denison. Theseus. Jetzt: Waldhaus-Verlag

Ruth Denison: Werde still und öffne dein Herz. Edition Steinrich.

Homepage von Paul Köppler: www.paul-koeppler.de

Waldhaus am Laacher See: www.buddhismus-im-westen.de

Haus Siddhartha in Bonn-Bad Godesberg: www.haus-siddharta.de

Von Sensory Awareness zu Vipassana Meditation – Ein Gespräch zwischen Ruth Denison und Stefan Laeng: https://www.3-schaetze.de/blog/von-sensory-awareness-zu-vipassana-meditation

Von Sensory Awareness zu Vipassana Meditation

Ein Gespräch mit Stefan Laeng und der wegbereitenden buddhistischen Lehrerin, Ruth Denison

Ich besuchte Ruth Denison am 29. April 1999 im Dhamma Dena Desert Vipassana Center, ihrem buddhitischen Retreat Zentrum in der Mojave Wüste in Süd-Kalifornien. Ich erinnere mich nicht mehr genau, wie es zu diesem Besuch kam aber es muss auf dem Heimweg von einer ausgedehnten gemeinsamen Zeit mit Charlotte Selver gewesen sein, als ich mit meiner damaligen Verlobten durch die Weiten der Wüsten Süd-Kaliforniens fuhr und wir die Gelegenheit ergriffen.

Ich hatte Ruth schon vorher getroffen und als ich sie anrief, lud sie Sarah und mich spontan in ihr Haus in Joshua Tree ein. Ruth war über all die Jahre mit den Sensory Awareness Leuten in Kontakt geblieben und hat diese Verbindung später, nach Charlottes Tod, sogar wieder frisch aufleben lassen. Sie war eine regelmäßige Besucherin auf Sensory Awareness Konferenzen und Workshops, sei es als Lehrerin oder um wieder Schülerin zu sein.

Sensory Awareness Conference im Mt. Madonna Center in Watsonville, California, 2006

Es ist in erster Linie Alan Watts und Henry Denison zu verdanken, dass Charlottes Arbeit nach Kalifornien kam. Charlotte gab ihren ersten Workshop an der Westküste im Haus von Henry in Hollywood. Henry war sein ganzes Leben ein spirituell Suchender und war ein paar Jahre Mönch im Advaita Vedanta Orden gewesen, bevor er sein Haus in den Hollywood Hills baute. In den frühen 60er Jahren beherbergten die Denisons viele Koryphäen der damaligen Gegenbewegung: Philosophen, Psychotherapeuten, Zen-Meister. Alan Watts war einer von ihnen. Er und Charlotte arbeiteten seit einigen Jahren zusammen und nun schlug er vor, Charlotte ebenfalls in diesen Kreis einzuladen.
Charlotte sprach immer sehr liebevoll von Henry und versäumte nie zu erwähnen, wie attraktiv er war. „Er sah aus, wie ein spanischer Grande,“ sagte sie dann immer. Ich bin nicht wirklich sicher, was ein spanischer Grande ist aber zum Zeitpunkt unseres Besuchs war Henry Denison noch am Leben, obwohl er unter Alzheimer litt. Ich hatte die Chance ihn zu treffen und trotz seiner Krankheit war es sofort klar, warum Charlotte von seinem Auftreten beeindruckt war. Er war groß und schlank und mit seinem dichten, grauen Bart sah er sehr würdevoll aus. Sarah und ich hatten eine schöne Begegnung mit ihm, in der er sich mit Begeisterung an Charlotte erinnerte.

Das Interview mit Ruth führten wir während des Mittagessens. Ruth war immer eine besonders grosszügige Gastgeberin und sie hatte damals oft für Charlotte und ihren Mann, Charles Brooks, gekocht. So saßen wir nun in ihrem kleinen Haus und sie erzählte uns von den Begegnungen mit Charlotte.

Ruth: Henry Denison und ich kamen uns zu dieser Zeit gerade näher. Alan Watts erzählte ihm von dieser Lady, die den Durchblick hatte, wie Henry sagte. Sie verstand, worum es damals ging. Es war so was wie eine Untergrundbewegung, Treffen, bei denen über Psychologie gesprochen wurde, über Selbstentfaltung und -verwirklichung.
Die Art und Weise, wie Alan Watts Charlotte beschrieb, hörte sich gut an. Er sprach von einer körperbezogenen Praxis, einem Prozess des Gewahrwerdens unserer mentalen und psychischen Bereiche.

Charlotte Selver erinnerte sich lebhaft an dieses erste Treffen und liebte es davon zu erzählen: „Ich kam zu Henry Denison mit Charles (laut Ruth war Charles bei diesem ersten Mal nicht dabei). Henry geleitete uns auf seine Veranda mit einem wunderschönen Ausblick über einen See. Wir saßen und warteten dort, während er das Mittagessen für uns zubereitete. Und dann kam er mit einer sehr schönen, dünnwandigen Holzschüssel mit frischem Salat und bat mich, mich zu bedienen. In dem Augenblick begann ein Vogel im Baum unter dem wir saßen zu singen. Ich hörte auf, mir Salat zu nehmen. Als der Vogel mit Singen fertig war, schöpfte ich weiter und Henry sagte: „Du bist dabei!“
Plötzlich hörten wir schrecklichen Lärm von bellenden Hunden: „Wau, wau, wau,“. Herein kamen vier kleine Hunde, die um ihn herumsprangen und ihn ableckten. Und nach den Hunden kam eine Frau herein, die wohl seine Herzdame war. Das war Ruth Denison“.

Charlottes Besuch bei Denisons fand wahrscheinlich 1959 statt, als Ruth und Henry noch nicht verheiratet waren und sie nicht bei ihm wohnte. Ruth Schäfer, so ihr Mädchenname, war 1957 von Deutschland in die USA ausgewandert.

Ruth: Ich weiß noch, was Charlotte getragen hat. Eine wunderschöne Bluse aus reiner Seide mit Manschetten, sehr formal. Ich kam mit zwei Dackeln und die machten sehr viel Krach. Ich war die laute Lady, die in diese friedvolle, ruhige Atmosphäre von höchster Kostbarkeit und Sensibilität mit Hunden hereinplatzte wie Dynamit. Die Stille war verflogen und der Frieden hinüber. Charlotte hatte ihren Spaß damit. Sie kann – wenn etwas so ganz erhaben ist und dann plötzlich alles drunter und drüber geht – sie kann das geniessen. Sie hat einen grossartigen Sinn für Humor.

Ich hatte Henry wohl nur einige Monate, vielleicht ein Jahr zuvor, kennengelernt. Er war seinerzeit sehr an all diesen Avantgarde Leuten interessiert, wie Aldous Huxley und Christopher Isherwood.

Henry vereinbarte mit Charlotte, dass ihr das Haus zur Verfügung steht und sie ihre Seminare dort abhalten kann, im grossen Wohnzimmer mit der sagenhaften Terrasse rundherum und dem wunderbaren Blick über die Berge und den See. Unsere Möbel konnten einfach beiseite geräumt werden. Der grosse Tisch wurde gegen die Glasfront gestellt und dann gab es Platz für zwanzig Personen, die dort liegen konnten. Es war ein Traumhaus. Und im Gästebereich war es dasselbe. Dort gab es eine Terrasse, von der aus man den See überblicken konnte und sie lebten dort. So bekam ich mein Training. Ich kochte für die Gruppe, und wenn immer möglich, machte ich mit. Zu dieser Zeit war Charlottes Arbeit für viele ein wirklicher Durchbruch. Psychologen kamen, Yogalehrer und Künstler. Durch Sensory Awareness haben sie wirklich Boden unter den Füssen bekommen. Die Sinne werden geschärft und ausgebildet, die Wahrnehmung wird klarer. Du läßt den Geist nicht in die Sinnesempfindungen eingreifen. Du hörst einfach, riechst, schmeckst. So ausgestattet, mit wachen Sinnen, kam ich zum Vipassana. Ich war auf’s Beste vorbereitet. Charlotte konnte das nicht verstehen! Aber es ist auch schwer, das zu verstehen.

Ruth´s Bermerkung, dass Charlotte nicht verstand, bezieht sich, so meine ich, auf Charlotte’s Ablehnung, Sensory Awareness einfach als Fahrzeug der Befreiung im Buddhistischen Kontext zu sehen. Charlotte, so wie andere Schüler*innen von Elsa Gindler – einer Berliner Gymnastik-Pionierin der deutschen Reformbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – bestand darauf, dass ihre Praxis eigenständig ist. Das sie benutzt wurde, um Menschen für eine Therapie oder ihre spirituelle Praxis vorzubereiten, hieß, dass die Tiefe der Praxis nicht wirklich erkannt wurde. Und wirklich, man könnte argumentieren, dass Ruth dieses Potential von Sensory Awareness ihrerseits nicht erkannte.

Wer meint, dass Sensory Awareness sich nicht mit dem Leiden auseinandersetzt und einzig Harmonie und „Wohlfühlen“ zum Ziel hat, missversteht worum es Charlotte Selver und ihren Lehrer*innen ging. Aber da Sensory Awareness keinen festgeschriebenen philosophischen Überbau hat, wird es oftmals wenig beachet und als Wohlfühlpraxis abgestempelt, eine Auffassung die Charlotte Selver sehr viel Kummer machte. Nichtsdestotrotz mag es gut sein, dass Charlotte Ruth unterschätzte und dass sie, wie viele andere, die Tiefe ihres eigenwilligen Ansatzes, den Buddha Dharma zu lehren, nicht erkannte.

Ruth: Zu Anfang wußte ich nicht, was ich mit Charlotte anfangen sollte. Später ging mir aber auf, dass ich ja eigentlich so lebte. Ich war sehr bodenständig und lebte mit meinem Körper. Als ich aber in diese hehre Gesellschaft mit ihren hohen Zielen wie Erleuchtung und spirituellem Erwachen kam, hatte ich eine andere Vorstellung davon, was das hiess. Wenn ich also aufgefordert wurde zu fühlen, meine Füsse zu spüren, meine Hände, meinen Atem, dachte ich: „Mein Gott“, was machen die denn da? Ich mache das doch ständig. Das ist doch so, wenn man lebendig ist“. Ich wunderte mich also erst mal, merkte aber recht schnell, dass mir da noch einiges fehlte. Ich verstand einfach falsch. Ich machte es zum Vergnügen und um mich besser zu fühlen.

Aber wenn du Vipassana praktizierst, ist das eine andere Geschichte. Was in Sensory Awareness geht – du findest mehr Harmonie, du wirst wacher und hast mehr Freude am Leben und Spass am Erleben, weil Du Dukkha und den Unannehmlichkeiten des Lebens weniger Aufmerksamkeit schenkst – das geht bei Vipassana nicht.

Beim Sensory Awareness ist Harmonie das Ziel, besseres Spüren, ganzheitliches Leben. Mit dieser Haltung kam ich zum Vipassana und hörte, dass die Aufmerksamkeit ebenso auf das Unangenehme gerichtet werden woll. Der innere Frieden, den Du durch die Achtsamkeit auf Sinneseindrücke erfährst, kann Dir helfen, Unangenehmem mit Gleichmut zu begegnen. Die Entwicklung von Achtsamkeit und die Entwicklung von Gewahrsein ist die grundlegende Basis von Vipassana. Wir nutzen den Körper und die anderen Sinne als Objekte der Aufmerksamkeit.

Stefan: Die Vier Grundlagen der Achtsamkeit (Satipatthana)

Ruth: Ja. Man arbeitet aber nur mit der ersten, mit Körper und Sinneswahrnehmung, die andern drei kommen dann ganz von selbst dazu. Denn Gefühle, angenehm oder unangenehm, sowie Geisteszustände und -inhalte, hängen von unserer Aufmerksamkeit auf Körperempfindungen ab, auf non-verbale Ebenen also. Dadurch wird der Geist gebunden und von seinen gewohnheitsmässigen Beschäftigungen und Verstrickungen weggeführt. Stattdessen beginnst Du zu verstehen: Dies erscheint jetzt, diese Gefühle oder dies Bewußtsein oder der Gedanke. Du bemerkst es und wirst nicht hereingezogen. Oder, wie es der Buddha ausdrückte: In diesem Klafter-langen Körper, mit seinen Wahrnehmungen, Gefühlen, Bewußtsein, ist die ganze Welt enthalten, Anfang und Ende.

Noch anders gesagt: es geht um Dukkha, das Leiden. Dann hast Du Buddha´s Unterweisung: “Ich lehre aus einem einzigen Grund: zur Beendigung des Leidens und wie wir es erkennen.” Wie wir es zurückführen können auf unsere Unwissenheit, unser Nicht-Verstehen und unsere emotionale Verwirrung. Wie wir unsere eigene Unzufriedenheit erschaffen usw.

Als Henry und ich also zu U Ba Khin, unserem Lehrer in Burma kamen, war ich sehr gut vorbereitet. Ich konnte damit weitermachen, auf meinen Atem zu achten, das war wunderbar. In den ersten paar Tagen war ich im Widerstand U Ba Khin gegenüber, weil ich der Situation nicht vertraute. Das tue ich doch alles schon, dachte ich. Als er meinen Widerstand bemerkte, war er sehr standhaft und erklärte mir, dass er nicht mit mir rede, sondern mit den bösen Geistern meines Widerstands. Das war hilfreich.

Dann kam alles schrittweise zusammen. Der Grund warum du etwas tust. Du erkennst den Prozess, anstatt nur einen Überblick zu haben. Viele wunderbare Einsichten erscheinen durch die systematische Anwendung von Achtsamkeit auf den Körper. Die Unbeständigkeit, die du auf einer mikroskopischen Ebene erkennen kannst, die Veränderung. Du lernst das Leiden kennen und wieviel Unannehmlichkeiten der Körper bereitet, um nicht daran anzuhaften, es immer nur angenehm haben zu wollen. Du lernst offen zu werden für das Unangenehme und dann wird es angenehm.

Ich glaube, ohne Charlottes Vorbereitung hätte ich es nie geschafft, weil meine Zeit mit U Ba Khin sehr kurz war. Mein Geist hätte sich nie so tief auf den Körper einlassen können, wie dies durch Charlottes Arbeit, Sensory Awareness, möglich wurde. So konnte ich ziemlich tief gehen während der fünf oder sechs Monate, die ich mit U Ba Khin verbrachte.

Als ich dann anfing zu lehren – er gab mir die Lehrerlaubnis – wäre ich nicht in der Lage gewesen, Menschen in der Praxis der Achtsamkeit zu begleiten, ihnen gute Anweisungen zu geben, worum es geht, wie man dabei bleibt und immer wieder neu beginnt, wie man zwei Stunden unbeweglich sitzt und dem Geist als Beobachter erlaubt, in die Bereiche der Empfindungen vorzudringen. So arbeitest du nicht mit Charlotte. Du nimmst es leichter und gehst auch mal nach Draußen.

Ich hatte auch ein wenig Zen-Training. Vom Zen habe ich gelernt zu ordnen und zu organisieren. Von Charlotte habe ich dieses wunderbar geerdete, den Geist gegenwärtig, die Psyche und die Geistesgegenstände dort wo der Körper ist. Das bedeutet, dort, wo das Leben wirklich stattfindet, wo du in direktem Kontakt damit sein kannst. Dein Geist wird ruhig und fokussiert. Er erwacht zu dem, was er gerade tut. Du verstehst mehr und mehr. Das nennen wir Einsicht, rechtes Verständnis, ein Aspekt des Achtfachen Pfades.

Also lasse ich die Leute stehen – manchmal höre ich mich Dinge sagen, wie Charlotte: „Bitte kommt zum Stehen“. Nicht aufstehen sondern zum Stehen kommen. Dann schlage ich vor: spürt eure Arme und lasst die Schultern der Erdanziehung folgen, spürt den Kontakt mit euren Füssen, zwischen euren Füssen und der Erde. Genau wie Charlotte es uns beigebracht hat. Verlagert euer Gewicht leicht auf den linken Fuss, spürt den Unterschied, wie sich der andere Fuss anfühlt. Das ist eine wunderbare Grundlage für Vipassana.

Dies machte mich auch zu einer zuverlässigen Begleiterin. Immer wenn die Gedanken der Schüler*innen abschweiften und es zu mental wurde, wenn sie nicht mit dem Körper verbunden waren, zeigte sich das sehr klar.

Aber in den Augen einiger Vipassana Schüler*innen, die damals von Goenka (dem bekanntesten Schüler von U Ba Khin) kamen, spielte ich nur herum. Einer sprang auf, rannte zur Tür, riss sie auf und schrie in die Stille des Raums, in dem wir arbeiteten: „Genug von diesem Hokus Pokus!“ Ich musste viel einstecken. Heute gibt es in Vipassana-Kreisen Yoga, Sensory Awareness usw. Aber Charlotte war eine Pionierin und ich war ebenfalls eine Pionierin.

Später habe ich Schüler*innen zu Charlotte geschickt. Solche, die ein bisschen mehr Erdung brauchten, für das Sitzen in Stille, ohne Bewegung, ohne etwas zu tun; Schüler*innen, die eine etwas andere Praxis benötigten, mehr Bewegung. Und ich ließ sie auch in meinen Seminaren auf dem Boden liegen und Dinge tun, die Charlotte tat. Experimente mit Berührung oder Partnerübungen. Oder ich ließ alle einen Stein finden und diesen Stein halten, um ihn dann in die andere Hand zu legen. Oder eine Nuss kauen und essen, den ganzen Prozess beobachten, von hart zu weich, zu Brei – und dann das Schlucken, all das machte ich.

Als ich anfing zu Lehren, war es mir unangenehm, vor ihnen zu sitzen, ihre Nervosität zu beobachten, ihr Gezappel und ihre innere Unruhe. Ich konnte ihnen unmittelbar Ruhe bringen, in dem ich ihnen vorschlug, eine Hand hochkommen zu lassen und sie dann spürend auf die andere Hand zu legen. Oder auf die Schulter von jemandem. Aber ich war am Anfang starker Kritik ausgesetzt.

Ich ließ Schüler*innen einander anschauen und einfach sehen, was gerade ist. Wie sie die andere Person wahrnehmen können, ohne den Kontakt zu ihren Füssen zu verlieren, zum Stehen und zur Gesamtheit ihres Seins. Es ist eine Übung nicht zerstreut oder abgelenkt zu sein und vielmehr achtsam bei sich selbst zu bleiben. Und dann die andere Person mit einzubeziehen.

Oder eine Blume zu pflücken oder den Boden zu riechen und wirklich dabei zu sein. Ich nahm sie mit in die Berge, ließ sie die Aussicht betrachten, ließ sie erkennen: Sehen geschieht, wenn die Augen auf ein Objekt treffen. Es geht manchmal etwas weiter als bei Charlotte, denn was wir sehen ist eher ein Konstrukt des Geistes und nicht einfach Wahrnehmen in Stille. Die Wahrnehmung wird sehr präzise. Im Prozess der Wahrnehmung gibt es die Augen, das Objekt und den Geist oder das Bewußtsein. Was wir sehen ist nicht wirklich ein Gefäss (Ruth klopft auf ein Gefäss). Wir sehen Farben und Formen. Und dann erkennen wir, dass alles Geist ist. Sehen, visuelles Bewußtsein.

Wir erkennen also, dass alles nur ein Prozess ist, der mentale Prozess des Sehens. Und das er drei Komponenten hat: Eine physiologische Ebene, ein Objekt und Geist. Und das bringt Dich in eine Position, in der Du nicht anderes kannst, als zu erkennen, es ist leer von einem „Ich“, es ist ein Prozess. Und dadurch, durch Charlottes Arbeit – ich meine, als Grundlage – kann ich fassbar und konkret die Wahrheit aufzeigen, auf die der Buddha verweist: Kein Selbst, Leerheit. Von Anfang an lehrte ich mit Hilfe dieser schönen Erfahrungen – der Geruch der Erde. Ich ließ sie als Würmer und Schlangen über den Boden kriechen – grundlegendes von Charlotte.

Ich bin ihr und Henry ewig dankbar, beiden, weil ich ihr ohne Henry nie begegnet wäre. Von Charlotte habe ich eine grossartige Grundlage für die Vipassana Praxis empfangen.

Stefan Laeng ist Sensory-Awareness-Lehrer. Er lebt in Peterborough, New Hampshire, USA, und arbeitet regelmäßig auch in Europa. Er ist geschäftsführender Direktor der Sensory Awareness Foundation. Gegenwärtig arbeitet er an einer ausführlichen Biografie über Charlotte Selver.

Infos: www.MindfulnessInMotion.net

Paramita – Ein Gespräch mit Yesche Udo Regel

Yesche U. Regel leitet, gemeinsam mit seiner Frau Angelika Wild-Regel, das PARAMITA BONN und die Praxis für Achtsamkeit, Meditation und Stressbewältigung in Bonn-Poppelsdorf, welches in diesem Jahr 12 Jahre alt geworden ist. Zeit für ein Interview…

 

3 schätze: Lieber Yesche, endlich kommen wir mal dazu, unser lange geplantes Interview zu führen. Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, wo wir anfangen sollen, denn es gibt für mich so viele interessante Dinge zu besprechen. Wollen wir eher über die Vergangenheit sprechen? Immerhin wandelst Du schon seit gut 40 Jahren auf buddhistischen Pfaden und hast so einiges für die Entwicklung des Buddhismus in Deutschland getan. So hast Du ja z.B. schon 1978 begonnen, Meditationsgruppen und Seminarhäuser zu  organisieren, zuerst in Berlin und Köln, dann ab 1981 das Kamalashila Institut auf Schloss Wachendorf und ab 1985 das Retreat-Zentrum in Windeck-Halscheid. Spannend ist also auch Deine Zeit von 1980 – 1997, in der Du als buddhistischer Mönch der tibetischen Karma-Kagyü-Tradition ordiniert warst und eine klösterliche Drei-Jahres-Klausur absolviert hast. Doch Deine ausführliche Vita findet sich auf der Webseite des PARAMITA BONN, so dass wir uns vielleicht einfach mit dem Hier und Jetzt beschäftigen. Wie sieht aktuell Dein Alltag als buddhistischer Lehrer aus?

Yesche: Ja, es stimmt. Auf meiner Website www.paramita-projekt.de steht einiges und die www.yesche.de wird wieder einmal neu aufgebaut und Du hast einige Eckdaten meines Lebens gerade aufgezählt. Wenn Du nach der Gegenwart fragst, so denke ich an den Zeitraum von 2005 bis heute. Das ist die Zeit seitdem wir das Paramita und die Praxis für Stressbewältigung in Bonn-Poppelsdorf betreiben. Es ist mein Lebensabschnitt der letzten 12 Jahre, in dem die Dinge für eine recht lange Zeit in meinem Leben recht ähnlich geblieben sind:
Meine Frau Angelika und ich leben hauptsächlich in der Nähe des Kamalashila Instituts in der Eifel und kommen fast jede Woche nach Bonn, um hier Abendkurse zu geben. Zudem reise ich sehr viel durch Deutschland. Ich glaube, ich gebe etwa 40 Wochenendkurse und Retreats pro Jahr. Die Eifel ist unser Refugium, aber auch dort geben wir zahlreiche Seminare im Kamalashila Institut (www.kamalashila.de) und haben einen Fachbereich „Achtsamkeit, (Selbst-) Mitgefühl und ihre Wurzeln im Buddhismus“ sowie eine Reihe zu „Sterben und Sterbebegleitung aus buddhistischer Sicht“ (mit Miriam Pokora, einer Hospizleiterein aus Berlin) aufgebaut.

So verläuft mein Leben also sehr abwechslungsreich. Ich weiß aber nicht, ob es noch lange in dieser Intensität weitergegen kann. Ich würde mich gerne auf das Wesentliche beschränken und auch etwas weniger reisen und mehr in Ruhe leben. Doch zugleich erscheint es mir sehr wichtig zu sein, Methoden zur Förderung von Achtsamkeit und Mitgefühls weiter zu vermitteln. Es gibt für mich eigentlich nichts Schöneres als gemeinsam mit anderen Menschen Methoden des Geistestrainings zu üben.

„Den Buddhismus von Grund auf verstehen – Eine heilsame Meditationspraxis entwickeln“

3 schätze: Ich würde gerne ein wenig über das PARAMITA BONN erfahren. Wie ist es organisiert? Wer praktiziert dort? Betrachtest Du das Projekt als Sangha und in einer bestimmten Tradition und/oder als offenes Meditationszentrum? Welche Aktivitäten und Angebote bietet Ihr im PARAMITA BONN an?

Yesche: Das Paramita ist im vor allem ein Donnerstag Abend-Programm. Es beginnt zumeist mit einer Tibetischen Puja, einem Ritual auf einen Buddha-Aspekt, um 17:00 Uhr, gefolgt von der Offenen Meditationsstunde um 18.00 Uhr und einem buddhistischen Studien- und Meditationsabend von 19.30 – 21.00 Uhr. Hinzu kommen gelegentliche Wochenendkurse oder Übungstage und auch Kurse mit eingeladenen GastlehrerInnen, z.B. einigen Tibetischen Lamas, die wir gut kennen und schätzen. Aber wir mögen auch Kurse und Gastvorträge von westlichen LehrerInnen.

Alles in allem sind die Termine mit Gastlehrern jedoch bisweilen eher selten, denn meine Frau und ich möchten auch gerne anwesend sein, wenn Gastlehrer da sind, und da wir auch anderswo unterrichten bleibt oft gar nicht so viel Zeit andere Lehrende einzuladen. Das zeigt auch, dass wir wirklich eher ein kleiner Privatbetrieb sind. Wir haben zwar viele Freunde, die sich mit uns sehr verbunden fühlen, sind aber nicht wie ein Verein organisiert und tun uns auch etwa schwer damit zu delegieren. Es gibt aber eine Reihe Freunde aus unserem engeren Kreis, die bei uns  Meditationen anleiten. Vielleicht wird sich auch das in Zukunft erweitern. Wir sprechen von Sangha, haben aber keine festen Mitglieder und niemand muss sich zum Paramita bekennen. Das hat Vor- und Nachteile.

Parallel zu den Aktivitäten des Paramita gibt meine Frau ja seit 15 Jahren MBSR-Kurse in Bonn und es läuft seit 2016 eine MBSR-Grundausbildung „Achtsamkeit leben – Achtsamkeit lehren“ der Arbor-Seminare in unserem Raum.

3 schätze: Dein Angebot geht ja noch darüber hinaus. So bietest Du bundesweit Seminare und auch individuelle Lebensbegleitung an.

Yesche: Ja, wie gesagt, ich reise viel durchs Land, zuletzt auch ins europäische Ausland. Am liebsten mache ich mehrtätige Gruppen-Retreats in gut geführten Seminar- und Retreathäusern, die an schönen Orten in der Natur oder auch in einer anderen Großstadt liegen, so etwas tue ich schon seit 25 Jahren. Vor allem mit Freiburg im Breisgau verbindet mich viel und ich habe dort in den 90ern 4 Jahre gelebt. Dort unterrichte ich jetzt noch an mehreren Plätzen jährlich.

Lebens- und Meditationsbegleitung biete ich auf Stundenbasis hier in unserem Raum in Bonn an, allerdings am liebsten für jene, die auch zu den Abendkursen kommen und dann Fragen zur Meditationspraxis haben.

3 schätze: Du hast Dich schon früh mit buddhistischer Philosophie und Meditationen beschäftigt, warst fast 17 Jahre lang ordinierter Mönch und bist seit 25 Jahren als Lehrer in buddhistischen Zentren im ganzen deutschen Sprachraum unterwegs. Dabei hast Du einen traditions-übergreifenden, lebensnahen Unterrichtsstil im Rahmen von Meditation und Buddhismus entwickelt, der auf Methoden des Mahayana-Geistestrainings, Achtsamkeits- und Mitgefühls-Meditationen sowie buddhistische Meditationen im Angesicht von Sterben und Tod spezialisiert ist.

Yesche: Ich war Mönch in einer tibetisch-buddhistischen Richtung und bin mit dieser immer noch verbunden, aber nicht wirklich als ihr Vertreter, außer vielleicht im Kamalashila Institut selbst, in dem ich meine traditionellen Wurzeln und mein geistiges Zuhause habe. Dort werde ich auch immer noch – und dies seit dem Ende einer Drei-Jahres-Klausur im Jahr 1990 – „Lama Yesche“ genannt.

Ansonsten möchte ich Menschen nicht durch Kurse und Meditationsanleitungen an eine buddhistische Richtung heranführen oder sogar binden. Ich glaube nicht mehr daran, dass das für viele sinnvoll ist bzw. dass es meine Aufgabe ist das zu tun, schon gar nicht als öffentliches Angebot in einer Großstadt. Die Menschen haben hier sehr unterschiedliche Hintergründe, innere Verbindungen und Interessen und ich mag es, wenn sich Menschen zu gemeinsamen Meditationen versammeln und eine gemeinsame Sprache für ihre Erfahrungen, oder alleine schon für ihre Fragen entwickeln können. Religionen müssen versuchen den Menschen zu helfen und nicht darauf aus sein, Menschen an sich binden und der Buddhismus hat so viele Facetten, dass er auf viele Weise hilfreich sein kann.

3 schätze: Auch mit Hilfe von MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction) finden immer mehr Menschen im Westen einen Zugang zu Meditation und Achtsamkeitspraxis. Dabei hat Jon Kabat-Zinn äußerlich erst einmal einen großen Teil der formalen, buddhistischen Praxis von der MBSR Praxis losgelöst und ein 8-Wochen Programm entwickelt, welches für viele Menschen ein leichterer Einstieg sein kann. Verändert sich der Buddhismus auf seinem Weg in die westlichen Gesellschaften? Wie siehst Du das Verhältnis von Tradition und Moderne?

Yesche: Ich denke es ist andersherum. Kabat-Zinn hat ein Programm basierend auf den Anleitungen der buddhistischen Praxis und den Erfahrungen damit, vor allem der Sitz-Meditation, aufgebaut und es dann etwas aus dem buddhistischen Kontext heraus gelöst. Das war gut motiviert und es ist für viele sehr hilfreich.

Die asiatischen buddhistischen Traditionen, die seit Jahrzehnten in aller Welt wirken, haben es zumeist versäumt Programme zu entwickeln, mit denen westliche Menschen für sie heilsame und gesunde Fortschritte machen können. In den Traditionen basiert vieles auf dem Glauben, dass man alles nur ganz traditionsgetreu ausführen müsste, dann würde es die besten Resultate hervorbringen, aber das muss nicht wahr sein. Jon Kabat-Zinn hat mit MBSR ein sehr schönes, essentielles Meditationsprogramm entwickelt und die Menschen, die Stress oder ein Krankheitsthema haben, sind auf natürliche Weise motiviert etwas zu finden, das ihnen hilft. Das ist sehr begrüßenswert.

Ich fände es erfreulich, wenn mehr und mehr solche Programme entwickelt würden, die aber Hand und Fuß haben müssen. Im Tibetischen Buddhismus erschienen auch über die Jahrhunderte immer wieder neue Anleitungen und Programme zu Meditationsübungen, regelrechte didaktische Kompositionen für unterschiedliche Menschen und ihre inneren Veranlagungen. Jetzt benötigt man geeignete Lehr- und Übungs-Formen für Menschen dieser Zeit. Ich denke, wenn diese auf den buddhistischen Prinzipen von Ethik, Meditation und Weisheit aufgebaut werden, dann können sie sehr hilfreich sein.

3 schätze: Seit Jahren bist Du immer wieder auch für die DBU, die Deutsche  Buddhistische Union tätig und schreibst neben der „Buddhismus aktuell“ auch eine Reihe von Artikeln in verschiedenen buddhistischen Zeitschriften. Ein Ziel der DBU ist es, den Buddhismus in Deutschland als Religionsgemeinschaft anerkennen zu lassen. Was könnten die Vorteile einer solchen Anerkennung als Religionsgemeinschaft sein?

Yesche: Der Buddhismus führt in Deutschland immer noch ein Nischendasein. Es gibt sicherlich viel mehr Sympathisanten mit den buddhistischen Lehren und Methoden als es Mitglieder in buddhistischen Gruppen gibt. Eine Anerkennung eines großen buddhistischen Dachverbands als Körperschaft des öffentlichen Rechts könnte helfen, dass Buddhist zu sein eine noch größere gesellschaftliche Bedeutung bekäme. Die Stimme von buddhistischen Lehrenden, Denkern, Praktizierenden, von am Buddhismus interessierten Wissenschaftlern und Künstlern könnte mehr Gewicht bekommen. Buddhistische Philosophie könnte an Schulen unterrichtet werden und auch die Öffentlich Rechtlichen würden mehr über den Buddhismus bringen. Man könnte als Buddhist standesgemäß sterben und die Friedhöfe hätten entsprechende Grabstätten dafür. Meine Frau und ich haben im letzten Jahr die buddhistische Abteilung auf dem Wiener Zentralfriedhof besucht, was sehr interessant war. In Österreich ist der Buddhismus staatlich anerkannt.

3 schätze: Im Sommer 2016 ist Dein erstes Buch: „Tonglen-Praxis – Meditationen zur Entwicklung von Mitgefühl“ (mit Meditations-CD) im Verlag Nymphenburger, erschienen. Magst Du zu dieser Form der Achtsamkeits- und Mitgefühls-Meditationen etwas erzählen?

Yesche: Tonglen, die Mitgefühls-Meditation aus dem Lodjong-Geistestraining des Tibetischen Buddhismus kenne ich jetzt fast 40 Jahre und unterrichte sie seit 25 Jahren. In dem Buch habe ich versucht diese Übungsweise so zu beschreiben, wie ich dies in den letzten Jahren in vielen Kursen und Retreats entwickelt habe. U.a. habe ich 3 Achtsamkeits- und Mitgefühls-Projekte in Kliniken begleitet, in denen ich zusammen mit einem Team der Universität Freiburg jeweils 10 Tage (d.h. einmal pro Woche) entsprechende Anleitungen in Pausen während der Arbeitsschichten angeboten habe. Dazu mussten die Meditationsanleitungen so vereinfacht und auf ihre Essenz gebracht werden, dass sie auch an ein Klinikpersonal vermittelbar wurden.

Das Buch wendet sich aber auch an praktizierende Buddhisten, die sich mit den ganz traditionellen Anleitungen etwas schwer tun. Gerade im Tibetischen Buddhismus kann es passieren, dass man vor lauter Ritualen nicht mehr spüren kann, worum es eigentlich geht. An diesem Dilemma habe ich versucht zu arbeiten und Tonglen so zu vermitteln, dass es wirklich hilft Mitgefühl für sich selbst und andere zu kultivieren.

3 schätze: Was sind Deine Pläne für die Zukunft?

Yesche: Gerade jetzt habe ich noch keine neuen Pläne, aber das könnte kommen. Es könnte noch eine Weile so weitergehen wie zuletzt oder es könnte sich etwas ändern. Ich würde gerne die Dinge tun, die ich als die wichtigsten erachte.

Aber vielleicht habe ich, haben wir, als Gesellschaft auch bald keine Freiheit mehr, ungehindert und kreativ eigene Pläne zu verwirklichen. Ich habe das Gefühl, dass sich in unserer Welt und unseren Gesellschaften gerade etwas deutlich ändert und dass es zu etwas Großem werden könnte, das uns dazu zwingen wird, unseren Lebensstil zu verändern. Ich will keine Angst verbreiten – und auch keine neurotischen Ängste haben – und mag auch selbst nicht an Worst-Case-Szenarien glauben, aber ich halte es für möglich, dass wir von größeren kriegerischen Aktionen erschüttert werden, auch hier in Europa. Es gibt jetzt so viele extreme Staatenlenker, neue Feindschaften, Kräfte, die etwas zersetzen und zerstören wollen und natürlich jede Menge Waffen, auch nukleare. Eine hedonistische Gesellschaft wie die unsere kreiert zudem – aus buddhistischer Sicht – jede Menge schlechtes Karma.

So gibt es zwar viel Intelligenz, technische Hilfsmittel und auch eine neue Sensibilität in unserer Zeit, aber im großen und ganzen hat sich die Menschheit gerade dazu entschieden, wider besseren Wissens negativ und zerstörerisch zu handeln. Nach dem buddhistischen Karma-Verständnis wiegen bewusst ausgeführte negative Handlungen mehr als solche, die aus Unwissenheit begangen werden. Und deshalb erscheint es mir möglich, dass wir die Folgen von unheilsamen Absichten und Handlungen auch erfahren werden. Wenn einige durchdrehen reißt es viele mit, das war in der Weltgeschichte immer so und man kann nicht erkennen, dass es nicht mehr so geschehen könnte. Deshalb ist es so wichtig gegen diesen vermeintlichen Trend zu steuern und die gesunden und heilsamen Kräfte in sich selbst und der Welt zu nähren und zu stärken. Die Praxis von universellem Mitgefühl und heilsamer Ethik, ganz im Sinn des Dalai Lama, sind jetzt wichtiger denn je und ich möchte mich dafür auch nach bestem Vermögen einsetzen, dass diese kommuniziert und gelebt werden können.

3 schätze: 1977, mit gerade mal 20 Jahren, hast Du den Buddhismus für Dich entdeckt und die Dreifach Zuflucht beim 16. Gyalwang Karmapa genommen. In diesem August wirst Du nun 60. Damals hast Du sicherlich anders über die Aspekte „Alter, Krankheit und Tod“ des Lebens nachgedacht, denen wir ja auch im Buddhismus immer wieder begegnen. Magst Du noch ein paar Worte hierzu verlieren?

Yesche: Tatsächlich war es das Tibetische Totenbuch, das mich vor 40 Jahren zum Buddhismus gebracht hat. Ich bekam es unter besonderen Umständen zu lesen, in der Zeit als ich kurz nach dem Abitur (in Köln) in einer kleinen WG in Westberlin landete. Wenig später begegnete ich bereits tibetischen Lamas, die genau das lehrten, was in dem Buch stand und eigenartiger Weise war ich schon etwas vorbereitet. Natürlich war damals das Thema „Tod und Sterben“ eher ein philosophisches und es schien die Brücke zu Meditationserfahrungen zu sein.

Nun im tatsächlichen Älterwerden ist es ein sehr konkretes und mit stärkeren Emotionen verbundenes Thema. Ich weiß, dass ich die meiste Zeit meines Lebens gelebt habe und der Körper wird wirklich alt. Die Eltern und fast alle Verwandten sind bereits gestorben und auch viele Freunde sind krank oder bereits verstorben. Gerade jetzt um die 60 herum sterben etliche mir bekannte Menschen. Es kann jetzt also jederzeit wirklich passieren. Auch habe ich bereits bei einigen Menschen am Sterbebett gesessen und sie als buddhistischer Geistlicher zu Grabe getragen oder Zeremonien ausgeführt. Ich vermute, die Anlässe werden sich von nun an häufen und dann komme auch ich irgendwann an die Reihe. Wenn alles in einer chronologischen Reihenfolge geschieht ist es der natürliche Verlauf und wir müssen uns diesem stellen und uns davon über die Natur von Leben und Tod belehren lassen. Aus buddhistischer Sicht sind plötzliche Tode und kollektive Gewalterfahrungen schlimmer, weil das Bewusstsein der Sterbende nicht begreifen kann, was geschieht.

Ich mag den Slogan der Hospizbewegung, die sagt. „Leben ist immer Leben bis zum letzten Atemzug.“ Und als Meditierende dürfen wir die Atemzüge – und damit auch das Leben – ja bekanntlich genießen.

Ein weiterer Aspekt zu Deiner Frage, der mir einfällt, ist, dass erst im Laufe des Älterwerdens deutlich wird, dass vor dem Sterben ja noch das Alter kommt, zumindest eine Phase der Erkrankung, außer im Fall von gewaltsamem oder plötzlichem Tod. Als ich vor 40 Jahren die buddhistischen Lehren über Tod und Sterben, über den Bardo (den Zwischenzustand nach dem physischen Tod) und die Sichtweise der Wiedergeburt kennen lernte, hatte ich noch keine Idee von der Länge der Lebensspanne und davon wie es sich anfühlt, einerseits immer mehr zu lernen und zu reifen und dabei physisch in diesem Körper zu altern. Das kann ein Vorgang sein, der bei einer durchschnittlichen Lebensdauer von etwa 80 Jahren einige Jahrzehnte das Leben bestimmt und in dem noch sehr viel innere Entwicklung und Vertiefung der Erfahrung geschehen kann.

Wenn ich mir etwas zum 60. Geburtstag wünschen könnte, was nicht wirklich der Fall ist – denn es kann immer alles ganz anderes kommen – dann, dass ich die vielen wunderbaren Lehren und Erfahrungen, die besonderen Begegnungen mit großartigen Menschen, die wirklich günstigen Lebensumstände, die ich so lange genießen durfte, die viele Liebe und Freundschaft, die mir in diesem Leben entgegengebracht wurde, auch die Kränkungen, Enttäuschungen und Verluste, noch eine ganze Weile so nutzen und interpretieren kann, dass es mir möglich ist eine innere Reife zu entwickeln, die es mir ermöglicht etwas immer noch Tiefgründigeres, Sinnvolleres und Heilsameres mit anderen teilen zu können.
Blumen dürfen wirklich blühen und duften bevor sie welken.

3 schätze: Vielen Dank, lieber Yesche, für dieses Gespräch und alles Gute für ein weiteres Lebensjahrzehnt.

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