Raymund Pothmann, Hospizarbeit und die Kapelle6

Die Erinnerung ist ein Fenster, durch das ich dich sehen kann, wann immer ich will.

Dr. med. Raymund Pothmann hat sich als Arzt der Angewandten Schmerztherapie und  der Palliativmedizin verschrieben. Darüber hinaus engagiert er sich im Arbeitskreis Kapelle 6 des Ohlsdorfer Friedhofs in Hamburg, einem Projekt, um verschiedenste Menschen zusammenbringen, Ideen auszutauschen, gemeinsame Interessen auszuloten und umzusetzen. Kennengelernt habe ich Raymund über die gemeinsame Zen Praxis in der Choka-Sangha um Zen-Meister Christoph Rei Ho Hatlapa. Mehrfach durften wir während diverser Hamburg Besuche Gast bei Raymund und seiner Frau Christiane sein. Zeit für ein Gespräch…

3 schätze: Lieber Raymund, schön, dass wir Zeit finden, um über Deine vielseitigen Aktivitäten zu sprechen. Neben vielen anderen Stationen in Deinem Leben, warst Du seit 2003 Leiter des Zentrums Integrative Kinderschmerztherapie und Palliativmedizin Delfin-Kids und Kinderhospiz Sternenbrücke, Hamburg. Außerdem hast Du mit dem Kinder PaCT Hamburg e.V. schwer erkrankte und palliative Kinder und Jugendliche, ihre Geschwister und Familien in Krisensituationen und in ihrer letzten Lebensphase zu Hause unterstützt und begleitet.

Raymund Pothmann: Ich hatte mich ja schon seit den 70er Jahren aus kinderneurologischer und sozialpädiatrischer Sicht mit schmerzgeplagten Kindern und Behinderungen befasst. Schmerzlich wurde mir dabei bewußt, dass sterbenskranke Kinder weitgehend vernachlässigt waren.

3 schätze: Was bedeutet es genau, wenn Du sagst, „dass sterbenskranke Kinder weitgehend vernachlässigt waren„? Kannst Du hierfür ein paar Beispiele nennen?

Raymund Pothmann: Für Kinder mit einer verkürzten Lebenserwartung sind die versorgenden Strukturen bei weitem noch nicht ausreichend: Es fehlt an einer flächendeckenden kinderärztlichen und pflegerischen Hilfestellung im Alltag, aber auch in den Kinderkliniken sind die Voraussetzungen noch wenig entwickelt. Häufig finden sich überhaupt keine Kinderpflegedienste. Und Kinderärzte sind selten darauf vorbereitet mit solchen Kindern umzugehen.

Mir helfen Humor, Geduld und das Vermögen, Kindern auf Augenhöhe zu begegnen„, sagt der fünffache Vater.

3 schätze: Schwerstkranke und sterbende Menschen zu behandeln und zu begleiten ist sicherlich nicht immer einfach, gerade bei sehr jungen Menschen. Was ist das außergewöhnliche an diesen jungen Menschen und was sind die Herausforderungen in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen?

Raymund Pothmann: Also, Pauline z.B., war die Tochter einer 14-jährigen Schülerin. Zuhause war die Familie nicht in der Lage mit der Krankheit (angeborene Hirnfehlbildung, Spastik und Epilepsie) umzugehen. Pauline fand im Kinderhospiz eine zweite Familie und verbrachte dort die letzten 2 Jahre ihres jungen Lebens. Sie konnte im Kinderhospiz die Liebe erfahren, die sie zuhause nicht erhalten hatte. Oder die 17-jährige junge Frau im Endstadium einer Krebserkrankung. Selbst die Perspektive auf einen letzten Inselurlaub ließ sich nicht mehr realisieren. Ihr selbst gestecktes Ziel war es schließlich, Weihnachten noch einmal zu erleben. Diese Vorfreude hielt sie am Leben und gab ihm Sinn. Friedlich konnte sie die Augen schließen, als der Weihnachtsabend anbrach.

Kinder haben noch das ganze Leben vor sich, mit allen Hoffnungen und Erwartungen, auch der Eltern. Deshalb ist es besonders schmerzlich, das Leben schon so früh zu verlassen. Deshalb ist es umso wichtiger, den letzten Lebensabschnitt so angenehm wie möglich zu gestalten. Dabei soll die Lebensfreude ganz im Vordergrund stehen.

3 schätze: Das könnten wir uns ja eigentlich alle durchaus vornehmen, schließlich kommt niemand um Alter, Krankheit und Tod herum. Wenn man sich die Tatsache der Vergänglichkeit vor Augen führt, scheint es mir sinnvoll, dass man sich schon während des gesamten Lebens auf den Tod vorbereitet. Bestenfalls hat man hierfür ausreichend Zeit und vielleicht auch entsprechende Lehrer*innen. Wenn Kinder und Jugendliche erfahren, dass sie sterben werden, haben sich diese wahrscheinlich noch kaum Gedanken zur eigenen Endlichkeit gemacht. Um nochmal auf Deine Arbeit mit sehr jungen Menschen zu kommen, gehen Kinder anders mit dem Tod um als Erwachsene?

Raymund Pothmann: Kinder bis zum 11./12. Lebensjahr haben je nach Entwicklungsstand noch sehr unterschiedliche Vorstellungen vom Tod und Sterben. Dementsprechend müssen wir uns Ihnen sehr individuell annähernd. Kindergartenkinder haben oft noch sehr magische Vorstellungen und der Tod ist nichts Endgültiges. Mit zunehmendem Alter begreifen sie zusehends besser, dass das Leben in der begreifbaren Form zu Ende geht. Altersentsprechende Rituale helfen Kindern, den Tod besser zu verarbeiten. Auch der (nonverbale) Umgang mit Tieren oder Musik hilft den Kindern schon im Vorfeld, die Zeit bis zum Sterben freudvoller zu erleben.

Das Begreifen des Sterbens kommt dann mit dem jungen Erwachsenenalter. Jugendliche möchten dann oft noch etwas Sinnvolles für ihre umgebenden Menschen tun wie ein Organ spenden oder eine Erinnerung an sich z.B. in Form eines Bildes zu hinterlassen. Nur einmal habe ich erlebt, das ein Junge für seinen sterbenden Bruder sich eine buddhistische Sterbebegleitung gewünscht hat. Dabei lag allerdings ein familiäres Faible für den Buddhismus vor.

3 schätze: Wie betrachtest Du das Leben-und-Sterben aus der Zen-Perspektive?

Raymund Pothmann: Zen hilft mir tatsächlich zum Thema Leben und Sterben eine gelassenere Sichtweise einzunehmen und im Gespräch mit den Kindern und Eltern einfließen zu lassen. Ich versuche zu vermitteln, dass einem Kind selbst für einen Tag begegnet zu sein einen Sinn ergibt. Ich versuche angesichts des anstehenden Todes das Bewusstsein zu schärfen, die verbleibende Zeit mit Freude zu füllen.

„Den Tagen mehr Leben geben!“

3 schätze: Auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg gibt es verschiedene Kapellen, von denen einige leerstehen und teilweise umgenutzt werden. So durfte ich, auf Deine Einladung hin, am 02.11.2018 an einem Vortrag der in Wien ansässigen Japanologin und Zen-Meisterin Fleur Sakura Wöss teilnehmen. Sie hatte dort aus ihrem Buch „Innehalten“ gelesen und Fragen der Zuhörer*innen beantwortet. Es war ein sehr schöner Abend in einer ganz besonderen Atmosphäre. Erzähle uns doch noch ein wenig von diesem Projekt…

Raymund Pothmann: Angeregt durch das Projekt Ohlsdorf 2050 haben sich Anwohner aus den umliegenden Stadtteilen und mit den verschiedensten Interessen zusammengefunden und den Arbeitskreis Kapelle 6 gegründet. Daraus entstand eine Kooperation mit dem Friedhof Ohlsdorf und dem Park-Management für die neue Nutzung der Kapelle als kulturelle Werkstatt unter dem Motto „Den Tagen mehr Leben geben!“. Dieser Ort stellt damit eine besondere Herausforderung dar. Wir versuchen, mit einem gerade gegründeten Verein eine noch bessere Basis dafür zu legen, das bisher gewohnte Leben auf einem Friedhof zu transformieren. Das mag gerade auf einem Friedhof gewöhnungsbedürftig sein. Aber gerade die besondere Freude stiftenden musikalischen Veranstaltungen kamen im laufenden Jahr besonders gut bei den Teilnehmer*innen an.

3 schätze: Welche weiteren Veranstaltungen sind denn in der Kapelle 6 geplant?

Raymund Pothmann: 2019 haben wir den Bogen der Themen wieder breit gespannt: von Frühlingsliedern und kleinen Ensemble-Konzerten über philosophische und transkulturelle Gespräche zu aktuellen Tagesthemen bis zu einer Krimi-Lesung („Die Stille nach dem Tode“ aus der Feder eines Palliativ-Psychologen oder einem Kinderfilm zum  mexikanischen Ritual der jährlichen Feier auf dem Friedhof („Coco“ zur Dia des Muertos)

Infos: www.kapelle6.de

3 schätze: Als Ableger der Choka Sangha bietet Ihr in Hamburg ja auch Zen-Meditation an. Kannst Du etwas über dieses Angebot und Eure Zen-Gruppe sagen?

Raymund Pothmann: Wir bieten wöchentlich kostenlose Meditation im Zen-Stil in einer Arztpraxis an, wobei wir jeweils das Wartezimmer in einen stimmigen Raum umgestalten. Auf diese niederschwellige Art versuchen wir das Zen-Bewusstsein praktisch mit Interessierten aus der Umgebung einzuüben.

Kontakt: Christiane Heinemann-Lindt, Tel.: 0151 – 15 221 443, E-Mail: cheili@gmx.de

Raymund Pothmann, Kinderarzt * Weiterbildung zum Arzt für Kinder und Jugendliche 1981 * Spezialisierung mit Schwerpunkt Kinderneurologie * Angewandte Schmerztherapie und klinische Forschung in diesem Rahmen, Palliativmedizin * Herausgabe des 1. Deutschen Kinderschmerzbuches 1988 * Von 1993-2003 Chefarzt eines  Sozialpädiatrischen Zentrums in Oberhausen/Rheinland * Seit 2003 Gründung und Leitung des Norddeutschen Zentrums für Kinderschmerztherapie und Palliativmedizin am Klinikum Nord-Heidberg, Umzug 2008 auf das Gelände der Stiftung Alsterdorf.

Kontakt:
Dr. med. Raymund Pothmann
Zentrum Kinderschmerztherapie u. Palliativmedizin
Alsterdorfer Markt 8
22297 Hamburg

 

7 Tage… im Kinderhospiz

Zur Hamburger Sternenbrücke hat der NDR einen Beitrag in der Fernsehreihe „7 Tage…“ gedreht. Den Beitrag kannst Du hier anschauen

Bonn Lighthouse – Ja zum Leben – Ein Ort zum Sterben

Hospiz bedeutet wörtlich „Gästehaus“ – doch heutige Hospize beherbergen sehr spezielle Gäste. Ein Hospiz wird voraussichtlich die letzte Wohnstätte sein, ein Ort, an dem die Bewohner sterben werden.

Um mich neben meiner Arbeit mit 3 schätze und dem San Bo Dojo noch mehr im Quartier (Bonn Nord/Altstadt) zu engagieren, besuche ich seit Ende Oktober 2018 einen Befähigungskurs zum Hospizbegleiter von Bonn Lighthouse. Bis Ende Mai werde ich dort in wöchentlichen Treffen auf die ehrenamtliche Begleitung von schwerkranken und sterbenden Menschen vorbereitet. Im Anschluss an den Kurs möchte ich mich dann gerne in der Gemeinschaftsküche im Bonn Lighthouse einbringen und einen Teil meiner Zeit (und meiner Ohren) den Bewohner*innen zur Verfügung stellen. Mit Jürgen Goldmann von Bonn Lighthouse habe ich ein kleines Interview geführt…

3 schätze: Lieber Jürgen, es freut mich, dass wir dieses Gespräch führen können. Bitte erzähle uns doch zu Beginn kurz etwas zu Deiner Person, den Ursprüngen und dem Angebot des Bonn Lighthouse.

Jürgen Goldmann: Von meiner Profession bin ich Diplom-Sozialpädagoge. Ich arbeite seit 1994 für Bonn Lighthouse (BLH). In den ersten Jahren war ich zuständig für die psychosoziale Beratung, Begleitung und Betreuung im Lighthouse-Wohnprojekt. Seit 2002 koordiniere ich den ambulanten Hospizdienst, der mit geschulten ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen (EA) schwerstkranke und sterbende Menschen sowie deren Angehörige im privaten häuslichen Umfeld, im vereinseigenen Wohnprojekt, in Einrichtungen der Behindertenhilfe und auf der Palliativstation Saunders (Universitätsklinik Bonn) begleitet. Zusätzlich biete ich seit 18 Jahren Trauerbegleitung für Erwachsene in Einzelgesprächen an.

3 schätze: Das Wohnprojekt in der Bornheimer Str. habt Ihr 1995 eröffnet. Das Konzept des ambulanten „Betreuten Wohnens“ unterscheidet sich ja ein wenig von (zumindest meiner) herkömmlichen Vorstellung eines Hospizes. Was ist das Besondere an diesem Modell?

Jürgen Goldmann: Der Begriff „ambulant“ ist da schon sehr zentral. Er bedeutet zuerst, dass die Bewohner in eigenen Wohnungen, in einem häuslichen Umfeld leben.

Ein weiterer wesentlicher Unterschied zu stationären Hospizen besteht darin, dass Bonn Lighthouse im Wohnprojekt ausschließlich die psychosoziale Begleitung und Betreuung durch Sozialarbeiter und Ehrenamtliche leistet. Die medizinisch-pflegerische Versorgung übernehmen externe Kooperationspartner wie ambulante Pflegedienste, Hausärzte oder die spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV). Darüber hinaus gibt es drei Besonderheiten, die im Vergleich zur „konventionellen“ Hospizarbeit bestehen: a) junges Durchschnittsalter (ca. 50 Jahre) der Betroffenen, b) lange Begleitungszeiten (durchschnittlich drei Jahre) und c) die meisten Bewohner besitzen eine komplexen psychosozialen Betreuungsbedarf und befinden sich bezüglich ihres Lebensstiles zumeist am Rande der Gesellschaft. In den letzten Jahren leben z.B. immer mehr Menschen mit einer langjährigen Suchterkrankung (überwiegend Heroin) in unserer Einrichtung, was sicherlich mit den Wurzeln unseres Vereins, sprich der Begleitung von Menschen mit HIV und AIDS, zu tun hat, in der drogengebrauchende Menschen eine Hauptbetroffenengruppe darstellen.

3 schätze: Mittlerweile bietet Ihr den 21. Befähigungskurs zum ehrenamtlichen Hospizbegleiter an. Welche Inhalte werden dort vermittelt und wie bereitet ihr die Ehrenamtler*innen auf die Begleitung von Sterbenden vor?

Jürgen Goldmann: Ein Leitmotiv dieses Kurses lautet „Haltung vor Methode“. Dies bedeutet, wir wollen den später in der Sterbebegleitung tätigen Ehrenamtlern eine patientenzentrierte Haltung vermitteln, die sich an den individuellen Vorstellungen von schwerkranken und sterbenden Menschen bezüglich deren persönlicher Definition von Würde und Lebensqualität orientiert. Die eigenen Vorstellungen der Begleiter sind für sie persönlich natürlich wertvoll und wichtig, aber in der Begleitung von sterbenden Menschen nachrangig. Aspekte wie wertfreies Wahrnehmen und lebensweltorientiertes Handeln sind an dieser Stelle von äußerster Bedeutung und müssen vielfach gelernt und immer wieder an sich selber überprüft und trainiert werden. Aber nur so ist selbstbestimmtes Leben und Sterben aus unserer Sicht möglich. Klingt einfacher als es vielfach ist!

Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Gleichgewicht von Nähe und Distanz in der Begleitung von Menschen in existenziellen Krisen, ohne die eine gesunde Psychohygiene der Begleiter nicht möglich ist. So sollen die Teilnehmer*innen während des Vorbereitungskurses für ihre persönlichen Ressourcen, aber auch für ihre möglichen Grenzen sensibilisiert werden, um im späteren Begleitungsalltag wach- und sorgsam mit sich umzugehen.

Aber natürlich gibt es auch „fachliches“ Rüstzeug (Sterbe- und Trauerprozesse, Kommunikation und Wahrnehmung, Gesprächsführung etc.) und recht früh auch die Möglichkeit durch Hospitationen Einblick in die diversen Begleitungsfelder von Lighthouse zu erhalten. Diese Hospitationen geschehen in Unterstützung durch und im engen Austausch mit erfahrenen Ehrenamtlichen und Sozialarbeitern. Wir versuchen, das Wasser so warm wie möglich zu halten, bevor man als „neuer“ Begleiter hereinspringt.

3 schätze: Ursprünglich ist die Lighthouse Bewegung ja in England aber auch in Deutschland und Österreich, im Zuge der AIDS Welle der 80er Jahre entstanden. Das Bonn Lighthouse bietet heute immer noch Menschen ein Zuhause, die HIV-positiv sind aber, wie Du schon angedeutet hast, auch und gerade denjenigen, die in irgendeiner Weise mal aus der Gesellschaft herausgefallen sind, eine Drogenkarriere hinter sich haben und/oder an chronischen und unheilbaren Krankheiten leiden. Kannst Du ein paar Beispiele aus der täglichen Arbeit nennen?

Jürgen Goldmann: In den 80er und 90er Jahren wurden, aber auch noch heute werden Menschen mit AIDS aufgrund ihrer Lebensstile (insbesondere schwule Männer und Drogengebraucher*innen) diskriminiert und ausgegrenzt. So kann man sagen, dass Bonn Lighthouse seit Beginn Personen unterstützt, die am Rande der Gesellschaft stehen. Bis heute leben im Wohnprojekt überwiegend Menschen mit einer Suchterkrankung oder die in ihrem Leben Erfahrungen mit Obdachlosigkeit, Gewalt, Missbrauch, Knast und/oder Ausgrenzung gemacht haben.

Seit 11 Jahren begleiten wir mit unserem ambulanten Hospizdienst als externer Partner auch in Einrichtungen der Eingliederungshilfe (in drei Häusern der Lebenshilfe Bonn sowie im Heilpädagogische Heim des LVR in Bonn-Villich) und unterstützen Menschen mit geistiger Behinderung in ihrer letzten Lebensphase. Also ebenfalls ein Personenkreis, der kaum eine Lobby in der Gesellschaft besitzt. In diesem Feld gibt es noch viel zu tun, um Hospiz und Palliative Care in den jeweiligen Einrichtungen nachhaltig zu implementieren. Ich denke, zusammengefasst lässt sich sagen, dass sich Bonn Lighthouse in seinem konzeptionellen Selbstverständnis und Leitbild in erster Linie für Menschen einsetzt, die im Gesundheitssystem nicht adäquat versorgt werden.

3 schätze: Menschen, die den Rand der Gesellschaft kennengerlernt haben, entwickeln ja teilweise sehr eigenwillige Lebensmodelle und Überlebensstrategien. In der Begleitung möchtet Ihr in die Autonomie Eurer Bewohner*innen möglichst wenig eingreifen. Ich könnte mir vorstellen, dass viele Bewohner*innen des Bonn Lighthouse durch ihre Geschichte, durchaus Probleme mit einer geregelten Struktur mitbringen oder es teilweise einfach schwerfällt Vertrauen zu fassen usw. Ich frage mich und nun auch Dich, ob aus Deiner Erfahrung, „Autonomie“ immer die oberste Maxime sein muss? Könnte nicht auch ein Angebot, welches das (Er-)Leben in Gemeinschaft ermöglicht, hilfreich sein, z.B. weil es den Bewohner*innen Struktur und Sicherheit in ihrer letzten Lebensphase bietet. Dies könnte, meiner Meinung nach, vielleicht auch einer gefühlten Vereinsamung und der Angst vor dem Tod entgegenwirken, wenn man sich der Verbundenheit des Seins bewusst wird und sich vielleicht wieder traut, Beziehungen einzugehen. Klingt das in Deinen Ohren zu theoretisch oder zu spirituell?

Jürgen Goldmann: Nun ja, Erleben von und Teilhabe an Gemeinschaft ist eines unserer Hauptziele im Wohnprojekt und die Bewohner haben jederzeit die Möglichkeit, dies zu leben. Da bin ich auch ganz deiner Meinung, dass Gemeinschaft und Struktur gerade in der letzten Lebensphase eine wichtige Ressource sein kann (aber nicht muss), die bestenfalls auch eine Kraftquelle im Sterbeprozess darstellt. Nur machen wir mit unserer Klientel häufig die Erfahrung, dass die wenigsten dazu in der Lage sind, spannungsfrei und harmonisch Gemeinschaft zu leben. Ich wünschte mir dies auch anders, aber da gilt dann wieder der (sozial)-pädagogische Grundsatz: „Hol die Leute dort ab, wo sie stehen!“ Es ist einfach nicht möglich, Menschen in ein System zu pressen, welches wir als Begleiter für uns persönlich als optimal befinden, aber aufgrund von Persönlichkeit oder Biografie der Lighthouse-Bewohner*innen nicht möglich sind. Solche Vorstellungen bezeichne ich gerne als Sozial-Romantik.

Die Autonomie besteht für mich darin, dass jeder Mensch selbst entscheidet, welchen Weg er einschlägt. Und ich möchte mir auch nicht anmaßen zu entscheiden, welcher Weg für einen anderen Menschen der absolut richtige ist. Unser Job beim Lighthouse ist allerdings zu entscheiden, welche selbstbestimmten Lebenswege in der Hausgemeinschaft (z.B. Drogenkonsum, Dealen, soziales Verhalten etc.) Gemeinschafts-kompatibel sind. Und da gibt es natürlich Grenzen, die wir setzen.

Vereinsamung oder Verbundenheit sind nach meinem Ermessen keine Aspekte, die durch eine bestimmte Anzahl von Menschen um jemanden herum oder festgelegte Tagesabläufe definiert werden können. Ein Gefühl von Verbundenheit entspringt eher einer inneren Haltung, die in Zufriedenheit, Glück, spirituellem Bewusstsein oder ähnlichem ihren Nährboden besitzt. Da spielt es keine Rolle, ob jemand sein Leben in Gemeinschaft oder in Zurückgezogenheit lebt.

Es hängt nach meiner Meinung immer von der individuellen Persönlichkeit ab. Menschen, die eine feste Tagesstruktur und Gemeinschaft suchen, haben sich für diesen Weg hoffentlich genauso autonom entschieden wie diejenigen, die den anderen Weg gehen. Entscheidend ist, dass man den Weg selbstbestimmt und mit ganzem Herzen gehen möchte. Dann passt ein jeder Weg!

3 schätze: Zum Thema „Selbstbestimmung“ passt ja auch der Bereich der passiven oder aktiven Sterbehilfe. Welche Haltung habt Ihr im Lighthouse in dieser Frage?

Jürgen Goldmann: Aktive Sterbehilfe ist in Deutschland verboten. Allein aus diesem Grunde lehnen wir diese Form ab. Unter passiver Sterbehilfe versteht man Situationen, in denen lebenserhaltene Maßnahmen (z.B. Magensonde) nicht mehr durch- oder fortgeführt werden. Dies geschieht mit ausdrücklicher Einwilligung des Patienten bzw. aufgrund seines mutmaßlichen Willens. Wenn wir als Mitarbeiter*innen von Bonn Lighthouse eine solche Entscheidung kennen, unterstützen wir jene Menschen in der Umsetzung dieses Willens z.B. gegenüber Ärzten oder in ethischen Konsilen.

Assistierter Suizid wird in der Hospizlandschaft massiv abgelehnt. Bonn Lighthouse führt keine Beratungen zum Thema „assistierter Suizid“ durch. Dies kann auch kein „offizielles“ Angebot eines Hospizvereins sein, der grundsätzlich Alternativen für den letzten Lebensweg aufzeigt (z.B. Mensch-zu-Mensch-Begleitung, medizinisch-pflegerische Versorgung durch Palliative Care). Allerdings respektieren wir von Bonn Lighthouse Menschen, die für sich den Weg des assistierten Suizids wählen und verurteilen sie grundsätzlich nicht, was ich persönlich auch für äußerst anmaßend halte. Diese Haltung kommt mir in der Hospizszene manchmal zu kurz.

3 schätze: Im Buddhismus gibt es die „Edle Wahrheit vom Leiden“, die sich auf die Anhaftung an unsere Bewertungen von „angenehm oder unangenehm“ und eine täuschende Sicht auf die grundsätzlichen Zusammenhänge des Lebens bezieht. Wir alle sind Alter, Krankheit und Tod unterworfen und in der letzten Phase des Lebens nimmt dann sicherlich oft auch das persönlich empfundene Leiden zu. Gibt es für Dich so etwas wie einen Sinn im Leiden und was bedeutet gutes Sterben?

Jürgen Goldmann: Sinn im Leiden? Edle Wahrheiten? Wow! Große Worte! Grundsätzlich schließe ich einen Sinn oder eine Wahrheit im Leiden in Form eines vorhandenen Potentials in einer schweren Lebenskrise für eine spirituelle oder Persönlichkeitsentwicklung nicht aus. Auch wenn ich den Sinn von individuellem Leid natürlich nicht immer bestimmen kann, hilft mir diese Haltung in meinem Berufsfeld, existenzielles Leid besser auszuhalten.

Im Rahmen meiner Trauerbegleitungen habe ich viele Trauernde kennengelernt, die mit fast unerträglichem seelischen Schmerz nach einem schweren Verlust, geplagt von Hoffnungslosigkeit, Ohnmacht und Ängsten kaum noch Sinn in ihrem Leben sahen und nach harter, langer und prozesshafter Trauerarbeit einen neuen Weg für sich gefunden haben, der ihr Leben wieder lebenswerter machte. Dies bedeutet jedoch nicht, dass ihre Trauer ganz verschwunden ist, was sie aus meiner „fachlichen“ Sicht auch nicht sein muss. Aber kann ich in einem solchen Fall sagen, durch diese Erfahrung von Leid öffnete sich eine neue Tür zu einem glücklicheren Leben, die sich sonst nicht geöffnet hätte? Vielleicht!

Im Zusammenhang mit Leiden im Sterbeprozess – und hier spreche ich in erster Linie von physischem Leid, welches z.B. in seltenen Fällen trotz palliativer Schmerztherapie oder bei Atemnot schwer in den Griff zu kriegen ist – besitzt die Frage nach dem Sinn oder Unsinn von Leid in meinem beruflichen Handeln keinerlei Relevanz. Hier dreht es sich für mich dann nur noch um die Frage, wie wir in erschwerten Begleitungssituationen den Patienten helfen können. Dies kann gelegentlich gemeinsames Aushalten von Ohnmacht und Angst sein oder anders gesagt: Da-Sein und -bleiben, wenn der Patient dies wünscht.

Sterben ist selten romantisch und friedvoll! Solidarität, Empathie und Da-Sein können in solchen Situationen dann eventuell noch tröstend und tragend sein. Hierin sehe ich einen unserer wichtigsten hospizlichen Aufträge.

Tja, und „gutes“ Sterben bedeutet für mich, dass ein Mensch zu einem großen Teil selbstbestimmt und nach seinen eigenen persönlichen Vorstellungen von Würde und Lebensqualität sterben konnte. Eine gute symptomkontrollierte palliative Begleitung gehört für mich ebenfalls dazu.

3 schätze: Wie unterscheidet sich Eure Arbeit im „Betreuten Wohnen“ vor Ort von der in der Palliativstation Saunders in der Uni-Klinik auf dem Bonner Venusberg?

Jürgen Goldmann: Station Saunders ist eine vollstationäre Palliativstation, angebunden an ein Klinikum, d.h. hier sind rund um die Uhr Ärzte und Pflegekräfte anwesend und greifbar. Die Patienten leiden alle an einer unheilbaren Erkrankung (vorwiegend onkologische Erkrankungen). Während ihres Aufenthaltes soll eine Kontrolle von akuten Symptomen (Schmerz, Luftnot, Obstipation, Übelkeit und Erbrechen, Unruhe, Angst etc.) erfolgen, die es bestenfalls ermöglicht, die Patienten wieder in das Umfeld zurück zu verlegen, aus dem sie gekommen sind (häusliches Umfeld, Seniorenheime). Bei ungefähr der Hälfte der Patienten gelingt dies jedoch nicht, d.h. sie versterben entweder auf der Station innerhalb weniger Tage oder Wochen bzw. werden sie in ein stationäres Hospiz verlegt.

Unsere Lighthouse-EA leisten auf der Station eine wichtige Unterstützung auf der psychosozialen Ebene. Teil des Lighthouse-Besuchsdienstes, der dreimal wöchentlich angeboten wird, sind Gespräche, biographisches Arbeiten (durch Erarbeitung eines Textes mit Patienten) und gelegentlich auch Sitzwachen bei sterbenden Patienten.

Die Arbeit der Ehrenamtlichen auf der Palliativstation ist dann nahezu auch die einzige Parallele zum ambulanten Lighthouse-Wohnprojekt, in dem wir ein solch engmaschiges medizinisch-pflegerisches Versorgungssystem gar nicht anbieten können.

3 schätze: In guter Tradition hatte das Bonn Lighthouse vor Weihnachten auch wieder den Lighthouse-Weihnachtsstrumpf hervorgeholt. Seit vielen Jahren sammelt Ihr in der Adventszeit Spenden, welche direkt den Bewohner*innen des Wohnprojekts zu Gute kommen. Grundsätzlich sind Spenden für Eure Arbeit immer herzlich willkommen. Wenn Du magst, sag doch hierzu abschließend auch noch ein paar Sätze.

Jürgen Goldmann: Sehr gerne! Wie bei allen kleinen sozialen und gemeinnützigen Vereinen stehen am Jahresende zumeist rote Zahlen im Haushalt, mal mehr mal weniger! Diese können wir am ehesten durch Engagement und Solidarität von Mitbürgern kompensieren, und damit meine ich Spenden. Spenden, ohne die Bonn Lighthouse sicherlich nicht schwerst- und sterbenskranke Menschen sowie deren Angehörige, bereits seit mehr als 25 Jahren hätte begleiten können. Damit wir unsere Arbeit auch in Zukunft so tun können, wie wir sie gerade tun, sind wir natürlich auch weiterhin auf Spenden angewiesen und freuen uns diesbezüglich sehr über jede Unterstützung. Spendenquittungen stellen wir natürlich aus! Ein herzliches Dankeschön an alle Spender an dieser Stelle.

Das Bonn Lighthouse ist ein Verein für Hospizarbeit e.V. und ist gemeinnützig und unabhängig. Weitere Informationen und ein Spendenkonto unter: https://bonn-lighthouse.de/geld-und-sachen-spenden

Infos zu Bonn Lighthouse findest Du hier: www.bonn-lighthouse.de