Zen und der Elefant im Wohnzimmer

Ein Gespräch mit Jürgen Dai Yu Windhorn über Zen, Permakultur und die allgegenwärtigen Steigerungsdynamiken…

Welche Formen von Verzicht und welche Formen von Befreiung würde es für uns heute bedeuten, wenn wir nicht Museumsverwalter einer tausendjährigen Tradition sein wollten, sondern lebendige Wesen mit offenen Augen?

3 schätze: Lieber Jürgen, Du lebst, arbeitest und praktizierst Zen Buddhismus im Lebensgarten Steyerberg. In dem Maße, wie sich der Zen-Lehrer, Christoph Rei Ho Hatlapa, dort mit der Gewaltfreien Kommunikation und Mediation als Werkzeug der „Rechten Rede“ auf dem Achtfachen Pfad engagiert, setzt Du Dich für die Permakultur im engeren und weiteren Sinne, im Sinne der „Rechten Handlung“, ein.

Jürgen Windhorn: Ja, das Pfadelement Nr. 5 des Achtfachen Pfades des Buddhismus lautet: „Schädige durch Deine (Berufs-) Tätigkeit keine anderen Wesen“ – oder positiv ausgedrückt: „Fördere das Leben von allen Wesen durch Dein Tun“. Unser ökologischer Fußabdruck ist aber seit Jahrzehnten um mehr als das Doppelte überzogen, d.h. durch unsere „ganz normale“ Lebensweise schädigen wir nicht nur unsere Umgebung und unsere Nachfahren, sondern wir entziehen ihnen auf Dauer die Lebensgrundlagen.

3 schätze: Wo siehst Du uns auf zu großem Fuße leben?

Jürgen Windhorn: In Sachen Konsum und Komfort, Reichweite in Bezug auf Weltverfügbarkeit, Sicherheit, Wohnfläche pro Kopf, neuerdings auch Datenvolumenübertragung pro Zeiteinheit, usw. – Alle diese Formen von Inanspruchnahme von Ressourcen, die anscheinend nie genug sind, sondern immer noch gesteigert werden müssen, erscheinen beinah als eine zwanghafte Sucht. Und auch wir als Buddhisten sind davon nicht frei und gelegentlich erscheint die Meditation wie ein Hilfsmittel benutzt zu werden um in diesem Steigerungsspiel noch fitter und leistungsfähiger zu werden.

3 schätze: Dies klingt jetzt ein klein wenig nach Kritik an bestimmten Formen des Zen im Westen.

Jürgen Windhorn: Die – nur ganz leicht provokant überzogene – These lautet: Wenn wir, als Teilnehmer an der westlichen industriebetriebenen Zivilisation, so etwas wie Zen-Buddhismus praktizieren, dann machen wir diese Zen-Praxis INNERHALB des Rahmens einer „Steigerungsdynamik“, die auch unser sonstiges Leben bestimmt. Insofern kann dann Zen-Praxis nicht nur zum Erwachen beitragen, sondern auch zum Aufrechterhalten einer ökologisch unhaltbar gewordenen „träumerischen“ Situation. Das Mittel zum Erwachen kann dann auf diesem Umweg zu einem Hilfsmittel der Stabilisierung einer pathologischen Grundhaltung werden.

3 schätze: Was ist das, was Du „Steigerungsdynamik“ nennst?

Jürgen Windhorn: Zunächst einmal machen wir ganz selbstverständlich alles was wir tun – wir haben, naiv, wie wir sind, kaum eine andere Chance – im Rahmen und unter den Prämissen der uns beherrschenden Weltanschauung und Ideologie. Wenn wir also – wir Westler innerhalb der ideologischen Paradigmen des Westens – Zen machen, dann machen wir nicht einfach nur Zen, sondern wir betreiben immer auch die allgemeine „Steigerungsdynamik“, also die Erfüllung der Standard-Ideologie unseres Kulturraumes, nur eben zufällig mit den Mitteln des Zen. Und die Instrumentalisierung von Zen-Meditation, Achtsamkeitsübungen, NLP usw., im Namen von Fitness, Konzentrationsfähigkeit und geistiger Power, die wir an der morgendlichen Meditationsrunde kritisieren, die von Goldman Sachs Inc. für deren Mitarbeiter, zwecks Profisteigerung angeboten und die auch gerne genutzt wird, stellt eben keine krankhafte Abweichung von dem dar, was wir tun, wenn wir Zen etc. üben, sondern bringt die Sache nur auf den Punkt.

Zu unserer, in unserer Zeit und unserer Weltgegend, herrschenden Weltanschauung und Ideologie gehört die grundlegende Idee, dass das Gesteigerte das Bessere und das Bestehende nicht gut genug sei. Und innerhalb dieser Ideologie einer geforderten Steigerungsdynamik machen wir – zunächst einmal – alles, was wir tun. Auch Zen.

3 schätze: Welche Möglichkeiten haben wir also, aus einer kurzfristig anscheinend selbststabilisierenden, aber mittel- und langfristig katastrophalen Grundhaltung, die Nr. 5 des Achtfachen Pfades diametral entgegen läuft, herauszukommen?

Jürgen Windhorn: Der aktuelle „Alltag“ ist aufgrund unserer, die eigenen Lebensgrundlagen unterminierenden Ressourcenverbräuche und unserer Emissionen, ein grundsätzlich anderer, als der in der späten Eisenzeit, zur Zeit von Meister Hyakujo oder während der Tokugawa-Herrschaft in Japan. Wenn wir also heute von „Zen im Alltag“ sprechen, welchen Alltag meinen wir dann: den der Buddha-Zeit, den von Hyakujo, den von Hakuin und Issa, oder welchen genau?

Der „Elefant im Wohnzimmer“ ist die schlichte und simple Tatsache, dass wir, durch die unkritische Teilnahme am Alltag, wie er sich heute, seit etwa fünf Jahrzehnten bei uns entwickelt hat, kaum eine Chance haben, Nr. 5 des Edlen Achtfachen Pfades auch nur annähernd von Ferne nahe zu kommen …

Insofern geht es heute und hier nicht so sehr um die Frage, welche Ökotechnik die beste ist, sondern um die Frage, welche Dynamik IN UNS dafür sorgt, dass wir auf jede innere Regung hin – als wären wir von einer Zwangsneurose getrieben – Steigerungen im Außen in Gang und durchsetzen müssen …

Unsere „Not“ scheint, seit den Zeiten des Wirtschaftswunders, keine Not des Mangels darzustellen, sondern eine merkwürdige Art von Unfähigkeit, mit der Überfülle umzugehen.

3 schätze: Was wären nun mögliche Lösungen oder auch nur die nächsten Schritte?

Jürgen Windhorn: Zunächst einmal geht es für uns vielleicht darum, uns von unseren zwangsneurotisch erscheinenden Reaktionen, auf Alles und Jedes, was sich in uns regt, in Richtung von Forderungen nach Steigerungen zu reagieren. Und dann darum, ein Gefühl für einen Enthusiasmus innerhalb von Maß und Mitte zu entwickeln, der unabhängig ist von Ressourcenzugriffen und Emissionen.

Dafür müssten wir uns davon befreien – um Befreiung geht es uns ja schließlich – panikartig auf jedes sich andeutungsweise zaghaft zeigende Bedürfnis oder auf jeden anscheinenden Bedürfnis-Konflikt mit hektischen materiell-energetischen Aufwandsmaximierungen und zusätzlichen Komfortinstallationen zu reagieren.

Unsere Beanspruchung der Biosphäre ist so schon weit überzogen und die bisher diskutierten Lösungen sind oft noch nicht wirklich zu Ende gedacht. Und wenn man versucht, die Lage der Dinge jenseits eines blauäugigen Idealismus realistisch darzustellen, zieht man sich unmittelbar den Vorwurf des Pessimismus und der Schwarzseherei zu. Und einem wird erklärt: „Pessimismus ist nicht hilfreich …“ – Was zweifellos richtig ist, aber – wobei brauchen wir denn Hilfe? Haben wir Not? In einem der reichsten Länder des Planeten? Mit einer – immer noch – relativ gut abgesicherten Sozialstruktur? Natürlich geht es vielen „nicht gut“, aber welche Maßstäbe werden hier angelegt? Wir haben Produktion und Konsumtion in den letzten Jahrzehnten, beginnend mit dem „Wirtschaftswunder“, mindestens im Durchschnitt um das Dreifache, in vielen Bereichen um das zigfache, zugelegt, immer auf der Suche nach Glück und nach der Erfüllung unserer Bedürfnisse.

Die „Not“ scheint, seit den Zeiten des Wirtschaftswunders, keine Not des Mangels darzustellen, sondern eine merkwürdige Art von Unfähigkeit, mit der Überfülle umzugehen. Tatsächlich stellt es für unsere Wirtschaft eine ständige Herausforderung dar, immer noch neue Bedürfnisse wecken zu müssen, um das System der Produktion und Konsumtion am Laufen zu halten. Die Produktivität selbst ist gewissermaßen in Not, denn sie braucht immer mehr Produktivität um sich selber zu erhalten. Tatsächlich stellt sich unser – gesamtgesellschaftlicher, also nicht in jedem Einzelfall gültiger – Erfolg so dar, dass wir, von ihm dominiert, ihm alles um uns herum unterworfen haben. Der Erfolg des Wirtschaftswunders – eingebettet in die mechanistische Weltanschauung unserer Kultur – hat dazu geführt, dass wir anscheinend nicht mehr anders können, als DAS POSITIVE mit Größer, Schöner, Schneller, Komfortabler, Sicherer, usw. zu assoziieren…

„Wir sehen „Glück“ und „Erfolg“ immer in einem Mehr, in einer Steigerung, in einer Ausdehnung“

Wenn heutzutage nach Lösungen für anstehende Probleme geforscht wird, dann tauchen gelegentlich auch wunderbare Medienerzeugnisse auf, die zunächst einmal die Stimmung wieder heben, weil sie zum Beispiel verkünden: „Die Welt ist voller Lösungen“. Das klingt erst einmal wunderbar „uplifting“, denn wer will keine Lösungen. Allerdings möchten wir auch Erfolg. Und Glück. Was „Erfolg“ ist, lassen wir aber durch Andere definieren, im Großen und Ganzen durch die gerade herrschenden Ideologeme und Paradigmen. Konkret also heute: durch der Markt. Und beim Erreichen von Erfolg und Glück soll uns die Meditation helfen. Amazon zum Beispiel bietet uns 1213 Vorschläge für buddhistische Ratgeberwerke an, wenn wir „Glück Buddhismus“ in die Suchmaske eingeben. Manchmal schaut dann aber, während der Glückssuche des Publikums, einer der traditionellen buddhistischen Lehrer auf und sagt verwundert, so wäre das aber nicht gemeint gewesen. Und schreibt jetzt ein Buch mit dem Titel „Not for Happiness“ (Dzongsar Jamyang Khyentse, 2012), in dem er erklärt, dass der buddhistische Weg eher dafür da wäre, sich enttäuschen zu lassen und die eigene innere Misere zu erleben, weil er uns auf unsere (Selbst-) Täuschungen hinweist und uns auch erst einmal unsere Miskonzeptionen und Verblendungen klar machen will. Wir aber hätten gerne die schnellen „Lösungen“, die uns unser Glück lassen und unseren Erfolg garantieren.

3 schätze: Das klingt, als hieße die Devise, weniger Entwicklung (im Sinne von höher, schneller, weiter) und zurück zur Einfachheit?

Jürgen Windhorn: Wenn man die Dinge (über-) steigert, hat man auch die Chance, sie deutlicher zu sehen und etwas zu lernen. Zum Beispiel, zu lernen, dass eine Steigerung – und zwar auch gerade die Steigerung dessen, was uns im ersten Anlauf als DAS GUTE per se erscheint, ambivalent sein kann. Wobei „Ambivalent“ heißt zunächst einmal, dass die Dinge nicht so einfach sind … Um aber herauszufinden, wie die Dinge wirklich, in vollem Umfang, in voller Ambivalenz sind, dafür scheint die Weisheit der Vergangenheit alleine nicht mehr auszureichen. Wir leben nun einmal in einer anderen – in einer von uns selber massiv veränderten – Welt, die sich mit nichts vergleichen lässt, was es in der späten Eisenzeit gab. Und die schnellen Lösungen des New-Age erweisen sich oft genug als … vorschnell.

Die meisten Bereiche des Lebens, z.B. „Energie/Energiesparen“, sind einfach sehr komplex und die Frage nach Problemlösungen nicht immer leicht und schnell zu beantworten. Ein Beispiel, schon seit 150 Jahren gut bekannt ist das sogenannte Jevons-Paradoxon: Effizientere technische Methoden führen des öfteren in der Folge zu Energiemehrverbrauch. Das klingt paradox. Daher auch die Bezeichnung dieses Phänomens … Zu Jevons Zeiten waren gerade die alten, ineffizienten Dampfmaschinen von Newcomen durch innovative Entwicklungen von James Watt ersetzt worden. Die Watt’sche Dampfmaschine wurde als „Lösung“ gefeiert, weil sie die damals knapp werdende Tagebaukohle viel effizienter in Kraft und Bewegung umsetzen konnte, als die alten Modelle. Außerdem war das Watt´sche Modell so kompakt und leicht, dass man es auf Räder montieren konnte. Damit war die Eisenbahn erfunden und die industrielle Revolution nahm ihren Lauf. Und der Verbrauch an Kohle explodierte geradezu. Und weil jetzt mit der neuen starken und effizienten Dampfmaschine die tiefen Kohleflöze von Grundwasser freigepumpt und abgebaut werden konnten, ließ sich auch der steigende Bedarf – etwa hundert Jahre lang, bis das dann auch vorbei war – bedienen.

3 schätze: Das klingt mitunter recht düster. Wo bleibt das Positive?

Jürgen Windhorn: Ja, es kann sein, dass man erst einmal Schwarz sieht, wenn man die Augen aufmacht. Weil die Dinge nicht so rosig sind, wie man sie sich in seinen (New-Age-) Träumen ausgemalt hat. Aber selbst Schwarz-Sehen mit offenen Augen wäre doch wohl dem Rosarot-Sehen mit geschlossenen vorzuziehen – vorausgesetzt man hätte Interesse an dem, was im Buddhismus Erwachen genannt wird. Und Schwarz-Sehen ist natürlich auch nicht das letzte Wort. Es ist vielleicht aber ein erster Schritt, ein Durchgangsstadium, auf einem Weg der Befreiung, der nicht durch ein Museum, sondern durch die Wirklichkeit führt.

Ansätze, technische und organisatorische Ansätze, für eine ökologisch und sozial verträgliche Lebensweise haben wir. Die fehlende Technik ist nicht das Problem. Und wir wissen heute – wir können wissen – dass mehr materieller Besitz und mehr Weltverfügbarkeit (ein Ausdruck des Soziologen Hartmut Rosa) nicht glücklicher macht. Was wir aber anscheinend nicht – oder noch nicht ausreichend – wissen, ist: Was steckt hinter unseren beinah zwangsneurotischen Reaktionen, die bei jedem sich bietenden Anlass ein Mehr im Sinne einer Steigerung von Verfügbarkeiten verlangen, die immer auch mit Ressourcenverbräuchen und Emissionen verbunden sind? Warum tun wir das, wenn es uns nachgewiesenermaßen unter dem Strich nicht glücklicher macht? Und was wollen wir „eigentlich“? Was macht uns wirklich glücklich. Das sind natürlich uralte Fragen, aber wir haben sie heute mit einer ganz anderen Dringlichkeit zu stellen als zu Zeiten von Bodhidharma und Hakuin. Es steht nicht mehr nur unser kleines privates Glück oder Unglück auf dem Spiel, sondern die Biosphäre eines ganzen Planeten und die Zukunft des Lebens überhaupt.

3 schätze: Was bedeutet „Glück“ für Dich?

Jürgen Windhorn: Kann man es so einfach ausdrücken und sagen? Auch, worum es im Buddhismus gehen soll, wenn nicht um´s naive Glücklichsein, ist gar nicht so einfach zu sagen. Das Positive, das den Verlust der primären Naivität übersteht, jenseits von Optimismus und Pessimismus, findet sich eben außerhalb einer simplen Happiness …

3 schätze: Abseits des Lebensgarten Steyerberg, mitten im Wald, ist nun der ToGenJi entstanden, ein Zen-Tempel und Heimat der Choka Sangha sowie Permakultur Projekt. Erzähl doch bitte ein bischen…

Jürgen Windhorn: Das ToGenJi-Projekt ist ursprünglich ein Zen UND Permakultur Projekt. Es geht um eine Verbindung des meditativen Weges mit einer Lebensweise, die mit der Natur kooperiert. Ein Weg, der schon für die (chinesische) Zen-Tradition maßgeblich war und der auch eine Umsetzung von Punkt Nr. 5 des Achtfachen Pfades, der Rechten Handlung, in einer hochindustrialisierten Kultur sein könnte. Ähnlich wie die Praxis und Anwendung der Gewaltfreien Kommunikation und der Mediation, die sich als Konkretisierung von Nr. 3, der Rechten Rede verstehen lässt.

Wir brauchen, sagt etwa auch der Oldenburger Ökonom Niko Paech, „Real-Labore“ jenseits der Steigerungs- und Verwertungszwänge, wo wir üben können, „unser Ding“ zu machen und nicht auf jede emotionale Regung zwanghaft mit materiellen und energetischen Steigerungen und Projekten zu reagieren.

Solche „Real-Labore“, schon länger bestehende Ökodörfer zum Beispiel, haben zwar wichtige Impulse im Bereich Spiritualität und Ökologie in den Mainstream gebracht, diese Impulse wurden dann aber auch im Sinne des Mainstream aufgenommen und integriert.

Außergerichtliche Verständigung wird zum „Industriestandard“ und Meditation von den Krankenkassen bezuschusst. Ein Erfolg ist zweifellos erkennbar, aber es ist nicht so leicht einzuschätzen, welcher Anteil ein realer Erfolg ist und welcher ein Pyrrhussieg. Warum ist das alles so schwer zu sehen? Die Buddhisten haben einen Begriff für diesen Effekt, etwas „eigentlich“ Offensichtliches nur schwer erkennen zu können: Verblendung.

Dieser Begriff „Verblendung“ wird allerdings in der Regel von uns meist nur rein innerpsychisch verstanden. Kein Wunder, wenn es doch den Buddhisten – traditionell, in der späten Eisenzeit des Buddha auch durchaus angemessen – zentral um die menschliche Innenwelt ging. Aber auch heute noch sagen maßgebliche buddhistische Lehrer: „Unsere Heimat ist der Geist“. So etwa ein französischer buddhistischer Lehrer aus der tibetischen Tradition gegenüber Besuchern aus dem Kolumbianischen Hochland, die in ihrer Heimat als wohl allerletzte Menschengruppe völlig getrennt von der industrialisierten Welt leben. Die Kogi-Schamanen aus dem südamerikanischen Bergen konnten die Erklärung der Buddhisten nicht verstehen. Wie kann man nur glauben, so wunderten sie sich, dass die eigene Heimat im Geist ist, wenn doch offensichtlich ist, wo und wie und wovon wir alle leben…?

Unser industrieller, immer noch weitgehend von fossilen Energiequellen angetriebener Alltag stellt, wie sich unter dem Strich zeigt, die Manifestation einer Art von großer perfektionierter Illusion dar, weil er einfach in der bestehenden Form nicht auf Dauer erhalten werden kann. Also in gewisser Weise als eine ins globale Ausmaß angewachsene materielle Umsetzung derjenigen geistigen Fessel, aus der uns die Übung des „Zen im Alltag“ befreien soll. Aus dieser Illusion, oder besser: aus diesem Traum (im doppelten Sinne des Wortes!) zu erwachen – immerhin gilt das „Erwachen“ als das ultimative Ziel im Buddhismus – scheint aber heute sehr viel verlangt. Denn allein schon die Anerkennung der Tatsache, dass wir uns mit unserer zwanghaften Bindung an die herrschende Steigerungsdynamik in einem Traum – der zunehmend zu einem Alptraum wird – befinden, diesen Traum also wenigstens luzide zu machen, fällt uns schwer genug. Und die Frage, wie heute ein – befreiend wirkendes – Zen im Alltag möglich sein könnte, unter Berücksichtigung von Punkt Nr. 5 des Achtfachen Pfades, ist damit zu einer Art Meta-Koan geworden.

3 schätze: Kann der Zen-Weg und die Zen-Praxis uns dazu verhelfen auf diese Fragen eine – für uns, für heute – angemessene Antwort zu finden?

Jürgen Windhorn: Ja, das ist die Frage. Was ist die – wirkliche – Alternative? Was ist der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit gegenüber den uns beherrschenden Paradigmen und Ideologemen? Es ist gar nicht so schwer … – Jede Beziehung, jede Beziehung zwischen Menschen und jede Beziehung zur Welt, die mir hilft, mir Dinge wirklich anverwandeln zu können und jede Beziehung, in der Menschen und Dinge mich im Wesen berühren und zu mir sprechen – unabhängig von Fragen der Verwertbarkeit und des Verfügbar-Machens – befindet und bewegt sich schon jenseits der herrschenden Paradigmen und Ideologeme.

Es kann durchaus auch sein, dass wir solche vertieften „Resonanzerfahrungen“ (wie Hartmut Rosa es nennt) in unserer Arbeit erleben, auch im Sich-Abarbeiten; jeder Handwerker und jeder wirklich Kreative kennt das, dass man sich in einer Arbeit verliert, völlig darin aufgeht, und hinterher aber erkennen muss, dass es zwar höchst befriedigend und zutiefst erfüllend war, das zu tun, aber niemand wird einem auch nur eine müde Mark dafür geben. Wenn man das erlebt, dann hat man sich zumindest schon einmal außerhalb des herrschenden Ideologems der Verwertbarkeit erlebt … Solche Erlebnisse und solche Beziehungen sind immer höchst persönlich und ihre Tiefe verhält sich in aller Regel umgekehrt proportional zum Maß ihrer Verwertbarkeit und Verfügbarkeit. Und, übrigens, diese resonante und zutiefst rezeptive Welthaltung ist nicht planbar und nicht herstellbar wie ein Industrieprodukt.

3 schätze: Also, weniger „Wellness“ und mehr „echte Revolution“?

Jürgen Windhorn: Die Idee, sich eine Auszeit aus dem Hamsterrad zu nehmen und dann am Wochenende eine sorgfältig geplante Gipfel- bzw. Tiefenerfahrung in der Natur oder bei einem Meditationswochenende einzuschieben, damit man dann unter der Woche davon zehren kann, funktioniert ja in der Regel nicht. Resonanz- und Tiefenerfahrungen verweigern sich eben der Steigerbarkeit genauso wie der Plan- und Verwertbarkeit. Der Ansatz, die Natur – die äußere und auch die innere – als Ressource zu verstehen, die von uns berechenbar in Anspruch genommen und nach Belieben genutzt werden kann, bleibt im Paradigma der Verwertbarkeit aller Dinge und Wesen befangen. Der Punkt ist natürlich – wie jeder weiß –, dass das Wertesystem des Alltags ein anderes ist, als dasjenige, dass sich aus wirklichen Tiefenerfahrungen ergibt. Und der Versuch, den Alltag zu „retten“ und zu verbessern und zu heilen, hat eben, wie die halbjahrhundertalte Geschichte des New-Age zeigt, oft genug dazu geführt, dass die brauchbaren Werkzeuge aus den spirituellen Traditionen im Sinne des Mainstream absorbiert und entsprechend eingesetzt wurden.

Das Verlangen – und vielleicht das befriedigte Verlangen – nach Resonanz- und Tiefenerfahrungen jenseits der Steigerungs- und Verwertungszwänge des Mainstream reicht aber nicht aus. Wenn wir kein Bewussstsein für die rasanten Veränderungen entwickeln, die unsere ökologisch untragbare Lebensweise als Kollateralschaden erzeugt, dann werden wir bald immer weniger resonante und tiefe Erfahrungen machen können, weil die Natur, die man noch erleben könnte, und die letztendlich die Grundlage von allen menschlichen Erfahrungen darstellt, sich zurückzieht und die Erhaltung des status quo immer aufwendiger und teurer wird. Allein schon, um nur ein Beispiel zu nennen, die in absehbarer Zeit notwendig werdenden Maßnahmen zum Küstenschutz und zum weltweiten Umbau der großen Häfen, auf deren Funktion die globale Wirtschaft beruht – auch wenn man vorerst nur von einem Meeresspiegelanstieg von 1 bis 2 Metern ausgeht – kann leicht die Hälfte aller personalen und materiellen Ressourcen in den Baubranchen der Küstenregionen erfordern. Ein funktionierender globaler Handel ist aber Voraussetzung, um uns mit den Ressourcen und der High-Tech für unsere Regenerative-Energie-Anlagen zu versorgen. Das nur als kleines Beispiel für die enormen Veränderungen, die auf uns, spätestens auf die nächste Generation, zukommen werden.

Das Mantra „Mehr, mehr, mehr, – Wachstum, Wachstum, Wachstum“ scheint nun wirklich nicht dessen Lösung darzustellen

„Produktive“ Tätigkeiten innerhalb der auf Wachstum angewiesenen Industriegesellschaft führen allzuoft zu Steigerungen von Dingen, bei denen sich im Nachhinein herausstellt, dass sie niemandem wirklich dienen. Am wenigsten zu irgendeinem Glücklichsein. Als Kenner und Geübte in der Zen-Tradition könnten wir jetzt auf eine solche Feststellung hin mit dem bereitliegenden Wanderstab auf den Tisch hauen und sagen: „Hah! Alles vergebens. Eine Anstrengung für nichts und wieder nichts!“, und dann fröhlich lachend den Rucksack schultern und beschwingten Schrittes unseres Weges ziehen. Und zu Rinzais Zeiten wäre das wohl auch eine adäquate Zen-Reaktion gewesen … – Dummerweise leben wir aber nicht mehr in Rinzais Zeit. Und in auch nicht in Hyakujos Welt. In unserer Welt, also in einer Welt, in der jeder Tag der Teilnahme an Industriearbeit ein Tag der Verringerung der Lebensqualität unserer Nachfahren bedeutet, müsste Hyjakujo passenderweise sagen: „Ein Tag MIT Arbeit ist ein Tag ohne Essen!“

3 schätze: Bedeutet es, den Zen-Weg zu gehen, letztlich doch in einer klösterlichen Struktur zu leben? Wird ein „Zen im Alltag“ nicht wirklich funktionieren?

Jürgen Windhorn: Niemand sagt, dass ein Zen-Weg, wenn er sich nicht auf museumswürdige Psychotechniken beschränkt, einfach ist. Ein Zen-Weg, der heute die Dinge um uns herum so einschließt, wie die ersten Generationen der chinesischen Buddhisten, die die Kunst des Gartenbaus und der Selbstverteidigung und der Kalligraphie in ihren Weg eingeschlossen haben – und zwar erfolgreich –, was müsste eine solcher Weg heute bei uns – und durch uns – einschließen? Welche Formen von Verzicht und welche Formen von Befreiung würde es für uns heute bedeuten, wenn wir nicht Museumsverwalter einer tausendjährigen Tradition sein wollten, sondern lebendige Praktizierende mit offenen Augen?

Und die Entgegnung: „Fang‘ bei dir an, feg’ erstmal vor deiner eigenen Tür, schau erstmal in dich selbst, mach’ erstmal mit dir selber Frieden, bevor du auf die Welt schaust“, – diese Entgegnung ist immer richtig und nie vollständig. Nicht vollständig, weil das „Ich“, das „in mir“, usw. heute, bei unserer heutigen Wirkungsreichweite und „Power“ etwas komplett anderes bedeutet, als zu Hyakujos oder Hakuins Zeiten. Auch das heißt Erwachen: Zur Erkenntnis der physischen, der industriellen Wirklichkeit zu erwachen, in der und von der wir leben. Auch dann, wenn wir uns einig sind, dass auch diese Wirklichkeit noch lange nicht die letzte ist. Aber wer kann wagen, zu behaupten, auf dem Weg zur letzten Wirklichkeit zu sein, wenn er gleichzeitig den Elefant im Wohnzimmer verleugnet?

Jürgen Dai Yu Windhorn ist Dharma Nachfolger von Christoph Rei Ho Hatlapa. Er lebt und arbeitet auf dem Gelände es ToGenJi, am Rande des Lebensgarten Steyerberg und betreut den Bereich Permakultur. Jürgen Dai Yu koordiniert darüber hinaus den Podcast der Choka Sangha und schreibt den Blog Hudewald – Anmerkungen zur Verbindung von Spiritualität und Ökologie.

 

Fotos: Jürgen Windhorn

Infos:
Zen & Permakultur
Choka Sangha
ToGenJi
Hudewald – Anmerkungen zur Verbindung von Spiritualität und Ökologie

 

5 Gedanken zu „Zen und der Elefant im Wohnzimmer

  1. Habe jede Frage und jede Antwort sehr gerne konsumiert und damit mein Wissen und den daraus folgenden Nutzen (auch gerne!) maximiert oder gesteigert. Danke.

  2. Ein wunderbares Interview, das wirklich zum nachdenken anregt. Vielen Dank! Wachstum muss allerdings nicht immer zwangsläufig sinnlos und destruktiv sein, wir können sinnvolle und gute Unternehmen starten und leider ist die Welt noch nicht so, dass wir ohne Geld leben könnten. Alles mit der richtigen Motivation ist gut, glaube ich.

  3. Gedanken zum Natur schutz:
    Wir haften an einem „DAS ist die Natur“ an und wollen möglichst das unere Wälder Seen und Flüsse noch 1000 jahre so währen. Doch wie Buddha bereits sagte, anhaften ist Leid. Wäre es nicht fiel sinfoller die treibhausgase und die veränderung der Natur als eine möglichkeit zu sehen, einen wahren wandel mit zu erleben? Wir könnten durch das anlegen neuer Wälder oder durch das graben neuer flüsse und Seen eine Welt aufbauen die zwar nicht so der Ursprünglichen Welt anhaftet aber die denoch ein Lebeswertes leben für alle fühlenden Wesen bereitstellt.

    Als beispiel: wahlrösser fallen fon Klippen weil es wegen dem schmelzen des polareises keinen liegeplatz mejr gibt und sie in hohe regionen klettern müssen um nicht zu ertrinken. Wir haben einen risigen platikstrudel im mehr an dem schildkröten zu grunde gehen weil sie plastik und quallen nicht unterscheiden können. Wen wir aus dem plastik flose machen und sie zu den wahlrösern bringen helfen wir beiden. Das co2 das wir dabei austossen könnenw ir gleich wieder in pflanzen investieren die wir als nahrungsquele für schildkröten und wahlrösser vorbereiten und aussetzen.

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