Raymund Pothmann, Hospizarbeit und die Kapelle6

Die Erinnerung ist ein Fenster, durch das ich dich sehen kann, wann immer ich will.

Dr. med. Raymund Pothmann hat sich als Arzt der Angewandten Schmerztherapie und  der Palliativmedizin verschrieben. Darüber hinaus engagiert er sich im Arbeitskreis Kapelle 6 des Ohlsdorfer Friedhofs in Hamburg, einem Projekt, um verschiedenste Menschen zusammenbringen, Ideen auszutauschen, gemeinsame Interessen auszuloten und umzusetzen. Kennengelernt habe ich Raymund über die gemeinsame Zen Praxis in der Choka-Sangha um Zen-Meister Christoph Rei Ho Hatlapa. Mehrfach durften wir während diverser Hamburg Besuche Gast bei Raymund und seiner Frau Christiane sein. Zeit für ein Gespräch…

3 schätze: Lieber Raymund, schön, dass wir Zeit finden, um über Deine vielseitigen Aktivitäten zu sprechen. Neben vielen anderen Stationen in Deinem Leben, warst Du seit 2003 Leiter des Zentrums Integrative Kinderschmerztherapie und Palliativmedizin Delfin-Kids und Kinderhospiz Sternenbrücke, Hamburg. Außerdem hast Du mit dem Kinder PaCT Hamburg e.V. schwer erkrankte und palliative Kinder und Jugendliche, ihre Geschwister und Familien in Krisensituationen und in ihrer letzten Lebensphase zu Hause unterstützt und begleitet.

Raymund Pothmann: Ich hatte mich ja schon seit den 70er Jahren aus kinderneurologischer und sozialpädiatrischer Sicht mit schmerzgeplagten Kindern und Behinderungen befasst. Schmerzlich wurde mir dabei bewußt, dass sterbenskranke Kinder weitgehend vernachlässigt waren.

3 schätze: Was bedeutet es genau, wenn Du sagst, „dass sterbenskranke Kinder weitgehend vernachlässigt waren„? Kannst Du hierfür ein paar Beispiele nennen?

Raymund Pothmann: Für Kinder mit einer verkürzten Lebenserwartung sind die versorgenden Strukturen bei weitem noch nicht ausreichend: Es fehlt an einer flächendeckenden kinderärztlichen und pflegerischen Hilfestellung im Alltag, aber auch in den Kinderkliniken sind die Voraussetzungen noch wenig entwickelt. Häufig finden sich überhaupt keine Kinderpflegedienste. Und Kinderärzte sind selten darauf vorbereitet mit solchen Kindern umzugehen.

Mir helfen Humor, Geduld und das Vermögen, Kindern auf Augenhöhe zu begegnen„, sagt der fünffache Vater.

3 schätze: Schwerstkranke und sterbende Menschen zu behandeln und zu begleiten ist sicherlich nicht immer einfach, gerade bei sehr jungen Menschen. Was ist das außergewöhnliche an diesen jungen Menschen und was sind die Herausforderungen in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen?

Raymund Pothmann: Also, Pauline z.B., war die Tochter einer 14-jährigen Schülerin. Zuhause war die Familie nicht in der Lage mit der Krankheit (angeborene Hirnfehlbildung, Spastik und Epilepsie) umzugehen. Pauline fand im Kinderhospiz eine zweite Familie und verbrachte dort die letzten 2 Jahre ihres jungen Lebens. Sie konnte im Kinderhospiz die Liebe erfahren, die sie zuhause nicht erhalten hatte. Oder die 17-jährige junge Frau im Endstadium einer Krebserkrankung. Selbst die Perspektive auf einen letzten Inselurlaub ließ sich nicht mehr realisieren. Ihr selbst gestecktes Ziel war es schließlich, Weihnachten noch einmal zu erleben. Diese Vorfreude hielt sie am Leben und gab ihm Sinn. Friedlich konnte sie die Augen schließen, als der Weihnachtsabend anbrach.

Kinder haben noch das ganze Leben vor sich, mit allen Hoffnungen und Erwartungen, auch der Eltern. Deshalb ist es besonders schmerzlich, das Leben schon so früh zu verlassen. Deshalb ist es umso wichtiger, den letzten Lebensabschnitt so angenehm wie möglich zu gestalten. Dabei soll die Lebensfreude ganz im Vordergrund stehen.

3 schätze: Das könnten wir uns ja eigentlich alle durchaus vornehmen, schließlich kommt niemand um Alter, Krankheit und Tod herum. Wenn man sich die Tatsache der Vergänglichkeit vor Augen führt, scheint es mir sinnvoll, dass man sich schon während des gesamten Lebens auf den Tod vorbereitet. Bestenfalls hat man hierfür ausreichend Zeit und vielleicht auch entsprechende Lehrer*innen. Wenn Kinder und Jugendliche erfahren, dass sie sterben werden, haben sich diese wahrscheinlich noch kaum Gedanken zur eigenen Endlichkeit gemacht. Um nochmal auf Deine Arbeit mit sehr jungen Menschen zu kommen, gehen Kinder anders mit dem Tod um als Erwachsene?

Raymund Pothmann: Kinder bis zum 11./12. Lebensjahr haben je nach Entwicklungsstand noch sehr unterschiedliche Vorstellungen vom Tod und Sterben. Dementsprechend müssen wir uns Ihnen sehr individuell annähernd. Kindergartenkinder haben oft noch sehr magische Vorstellungen und der Tod ist nichts Endgültiges. Mit zunehmendem Alter begreifen sie zusehends besser, dass das Leben in der begreifbaren Form zu Ende geht. Altersentsprechende Rituale helfen Kindern, den Tod besser zu verarbeiten. Auch der (nonverbale) Umgang mit Tieren oder Musik hilft den Kindern schon im Vorfeld, die Zeit bis zum Sterben freudvoller zu erleben.

Das Begreifen des Sterbens kommt dann mit dem jungen Erwachsenenalter. Jugendliche möchten dann oft noch etwas Sinnvolles für ihre umgebenden Menschen tun wie ein Organ spenden oder eine Erinnerung an sich z.B. in Form eines Bildes zu hinterlassen. Nur einmal habe ich erlebt, das ein Junge für seinen sterbenden Bruder sich eine buddhistische Sterbebegleitung gewünscht hat. Dabei lag allerdings ein familiäres Faible für den Buddhismus vor.

3 schätze: Wie betrachtest Du das Leben-und-Sterben aus der Zen-Perspektive?

Raymund Pothmann: Zen hilft mir tatsächlich zum Thema Leben und Sterben eine gelassenere Sichtweise einzunehmen und im Gespräch mit den Kindern und Eltern einfließen zu lassen. Ich versuche zu vermitteln, dass einem Kind selbst für einen Tag begegnet zu sein einen Sinn ergibt. Ich versuche angesichts des anstehenden Todes das Bewusstsein zu schärfen, die verbleibende Zeit mit Freude zu füllen.

„Den Tagen mehr Leben geben!“

3 schätze: Auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg gibt es verschiedene Kapellen, von denen einige leerstehen und teilweise umgenutzt werden. So durfte ich, auf Deine Einladung hin, am 02.11.2018 an einem Vortrag der in Wien ansässigen Japanologin und Zen-Meisterin Fleur Sakura Wöss teilnehmen. Sie hatte dort aus ihrem Buch „Innehalten“ gelesen und Fragen der Zuhörer*innen beantwortet. Es war ein sehr schöner Abend in einer ganz besonderen Atmosphäre. Erzähle uns doch noch ein wenig von diesem Projekt…

Raymund Pothmann: Angeregt durch das Projekt Ohlsdorf 2050 haben sich Anwohner aus den umliegenden Stadtteilen und mit den verschiedensten Interessen zusammengefunden und den Arbeitskreis Kapelle 6 gegründet. Daraus entstand eine Kooperation mit dem Friedhof Ohlsdorf und dem Park-Management für die neue Nutzung der Kapelle als kulturelle Werkstatt unter dem Motto „Den Tagen mehr Leben geben!“. Dieser Ort stellt damit eine besondere Herausforderung dar. Wir versuchen, mit einem gerade gegründeten Verein eine noch bessere Basis dafür zu legen, das bisher gewohnte Leben auf einem Friedhof zu transformieren. Das mag gerade auf einem Friedhof gewöhnungsbedürftig sein. Aber gerade die besondere Freude stiftenden musikalischen Veranstaltungen kamen im laufenden Jahr besonders gut bei den Teilnehmer*innen an.

3 schätze: Welche weiteren Veranstaltungen sind denn in der Kapelle 6 geplant?

Raymund Pothmann: 2019 haben wir den Bogen der Themen wieder breit gespannt: von Frühlingsliedern und kleinen Ensemble-Konzerten über philosophische und transkulturelle Gespräche zu aktuellen Tagesthemen bis zu einer Krimi-Lesung („Die Stille nach dem Tode“ aus der Feder eines Palliativ-Psychologen oder einem Kinderfilm zum  mexikanischen Ritual der jährlichen Feier auf dem Friedhof („Coco“ zur Dia des Muertos)

Infos: www.kapelle6.de

3 schätze: Als Ableger der Choka Sangha bietet Ihr in Hamburg ja auch Zen-Meditation an. Kannst Du etwas über dieses Angebot und Eure Zen-Gruppe sagen?

Raymund Pothmann: Wir bieten wöchentlich kostenlose Meditation im Zen-Stil in einer Arztpraxis an, wobei wir jeweils das Wartezimmer in einen stimmigen Raum umgestalten. Auf diese niederschwellige Art versuchen wir das Zen-Bewusstsein praktisch mit Interessierten aus der Umgebung einzuüben.

Kontakt: Christiane Heinemann-Lindt, Tel.: 0151 – 15 221 443, E-Mail: cheili@gmx.de

Raymund Pothmann, Kinderarzt * Weiterbildung zum Arzt für Kinder und Jugendliche 1981 * Spezialisierung mit Schwerpunkt Kinderneurologie * Angewandte Schmerztherapie und klinische Forschung in diesem Rahmen, Palliativmedizin * Herausgabe des 1. Deutschen Kinderschmerzbuches 1988 * Von 1993-2003 Chefarzt eines  Sozialpädiatrischen Zentrums in Oberhausen/Rheinland * Seit 2003 Gründung und Leitung des Norddeutschen Zentrums für Kinderschmerztherapie und Palliativmedizin am Klinikum Nord-Heidberg, Umzug 2008 auf das Gelände der Stiftung Alsterdorf.

Kontakt:
Dr. med. Raymund Pothmann
Zentrum Kinderschmerztherapie u. Palliativmedizin
Alsterdorfer Markt 8
22297 Hamburg

 

7 Tage… im Kinderhospiz

Zur Hamburger Sternenbrücke hat der NDR einen Beitrag in der Fernsehreihe „7 Tage…“ gedreht. Den Beitrag kannst Du hier anschauen

Gedanken aus der Küche

Vor jeder Mahlzeit lesen wir in der Monk´s Kitchen die „Fünf Betrachtungen über das Essen“. Dies ist ein schöner Akt, um anzukommen und das gemeinsame Mittagessen einzuleiten. Ich bin dankbar dieses kleine Ritual mit Euch teilen zu können, denn es bietet mir immer wieder die Möglichkeit meinen Fokus auf das Geben, das Empfangen und das Teilen zu richten. Hier ein paar Gedanken…

Erstens: Ich denke daran, woher diese Speise kommt und wie viel Arbeit damit verbunden war.

Die Monk´s Kitchen wird möglich, weil ich jede Woche Gemüse geschenkt bekomme, welches für den Verkauf im Hofladen/Leyenhof nicht mehr geeignet erscheint. Dabei ist es meistens wirklich gutes Bio-Gemüse, welches hier immer wieder Verwendung findet und uns leckere Mahlzeiten in Gesellschaft ermöglicht. Bevor das Essen hier auf den Tisch kommt, haben unzählige Kleintiere den Boden dafür bereitet, Bauern haben auf dem Feld geschwitzt, es wurden Stromleitungen bis in meinen Herd verlegt und und und…

Zweitens: Beim Empfang des Essens ist mir mein eigenes Handeln bewusst.

Die Rückkehr zum gegenwärtigen Moment und das Erleben von Gemeinschaft ist das Herz der Monk´s Kitchen.

Drittens: Ich achte darauf, nicht zerstreut oder gierig zu sein.

Im Zen werden die formalen Mahlzeiten mit den sog. Oryoki eingenommen. Oryoki bedeutet „das, was gerade genug enthält“ und ist ein Set von verschiedenen Schalen unterschiedlicher Größe für Reis, Gemüse etc. Das Oryoki Essen erfordert einerseits eine gewisse Aufmerksamkeit die verschiedenen Schalen „richtig“ zu handhaben. Gleichzeitig eben auch ein Zufriedensein mit dem was die Schalen fassen können. Nicht gierig sein drückt sich auch in den Spenden am Ende der Mahlzeiten aus. Da das Essen keinen festen Preis hat, bei dem ich überlegen muss, ob ich es mir leisten kann oder nicht, ermöglicht das Spenden ein freies Geben ohne etwas zurückhalten zu müssen.

Viertens: Ich schätze dieses Essen, weil es Körper und Geist gesund erhält.

Im japanischen Original heißt es wörtlich „Essen ist gute Medizin und heilt uns von Altern und Tod“ oder auch „Wir nehmen diese Nahrung zu uns wie Medizin für die Gesundheit des Körpers„. Körper und Geist sind gesund, wenn sie verbunden/nicht-getrennt sind, wenn unser Denken mit unseren Handlungen übereinstimmt.

Fünftens: Ich empfange diese Gabe, um allen Wesen zu nutzen.

An dieser Stelle möchte ich Danke sagen für die immer wieder schöne gemeinsame Zeit an meiner Tafel. Im Zen sagt man: „Auf mich selbst achtend, achte ich auf die anderen, auf die anderen achtend, achte ich auf mich selbst.“

Zen und die Sinne: Erinnerungen an Charlotte Selver und Shunryu Suzuki Roshi – Ein Interview mit Yvonne Rand

Zen und Sensory Awareness. In Form und Praxis verschieden, zeichnet beide gleichzeitig eine wunderbar bereichernde Verwandtschaft aus, welche sich auch in der Begegnung und dem Zusammenwirken von Shunryu Suzuki Roshi und Charlotte Selver zeigte. Das folgende Gespräch ist ein Auszug eines Interviews, welches Stefan Laeng als Teil des Charlotte Selver Oral History and Book Projects geführt hat. Yvonne Rand ist Meditationslehrerin und Zen-Priesterin in der Soto Tradition. Sie begann mit ihrem Studium und der Praxis des Zen mit Suzuki Roshi im Jahr 1966 und wurde Dharma-Nachfolgerin von Dainin Katagiri Roshi.

Yvonne Rand: Das erste Mal haben Charlotte Selver und Suzuki Roshi 1967 gemeinsam in San Francisco gelehrt. Es war ihre erste Begegnung überhaupt und sie taten alles gemeinsam. Er leitete einen Teil des Tages und sie leitete einen Teil des Tages, und er war dann vollständig Teilnehmer. Seine Schüler*innen bemerkten das. Oh, das ist also eine Lehrerin, der wir Aufmerksamkeit schenken sollten. Auf der anderen Seite waren da auch einige Schüler*innen von Charlotte, die von Suzuki Roshi und seiner Lehre angetan waren.

Ich erinnere mich an einen der ersten Sensory Awareness Workshops von Charlotte in Green Gulch. Sie hatte einige grosse Steine dabei. Sie bat uns, uns auf den Boden zu legen und die Steine auf unterschiedliche Stellen des Körpers zu legen, um die Aufmerksamkeit in den Körper zu bringen. Suzuki Roshi war begeistert von all dem. Selbst heute noch richten wir Amerikaner unsere Aufmerksamkeit vor Allem auf die Region über dem Hals. Ich glaube, er war sehr froh diese Affinität und Gemeinsamkeit in ihrer Arbeitsweise zu spüren.
Für Suzuki Roshi, der Steine liebte – er war vernarrt in Steine – war klar, dass sie etwas zu bieten hatte, das fehlte. Hier war jemand, die Steine in ihrer Arbeit nutzte, um ihre Schüler*innen in eine Art Erwachen für die Sinne und Körperlichkeit einzuführen, die es jeder und jedem erlaubten, aufmerksam zu werden für die eigene Erfahrung.

Für einen japanischen Zen-Priester in den USA war körperbasierte Arbeit und Praxis zu dieser Zeit ungewöhnlich. Eine Westlerin zu finden, die eine Arbeit wie Charlotte anbot und die so stark mit dem Zen und seinen eigenen Erfahrungen harmonisierte, war selten. Ich glaube, manchmal war er auch ganz schön einsam. Natürlich hatte er eine enge Verbindung zu seinen Schüler*innen. Aber die kollegiale Verbindung mit einer Lehrerin hat halt nochmals eine andere Qualität. Darin fand er wohl auch Bestätigung.

Die meisten amerikanischen Zen-Schüler*innen hatten einen Hang zum Dogmatismus – als hätten manche Leute Scheuklappen an. Wenn Zen Praxis nicht streng und formal war, dann war es keine Zen Praxis. Wenn Du aber auf die Zen Geschichte in China, Vietnam oder Japan zurück schaust, gab es da immer auch die Sonderlinge und all die verschiedenen Formen, die als Ausdruck des Buddhismus anerkannt sind, des Zen im Besonderen.

Mein Eindruck von Suzuki Roshi war, dass es ihm sehr klar war, dass Sensory Awareness eine spirituelle Praxis ist, eine die den Menschen erfahren lässt, wie man vom Hals abwärts erwacht. In einer Weise sind Charlottes Unterweisungen später in ihrem Leben in unsere Gemeinschaft integriert worden, die ansonsten in erster Linie auf den Buddhismus und die Lehren von Suzuki Roshi konzentriert war. Charlotte und ihre Schüler fühlten, dass es da eine Verwandtschaft gab und das haben dann auch die Zen-Schüler*innen gefühlt.

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Suzuki Roshi über seine Erfahrungen, gemeinsam mit Charlotte zu unterrichten. Er sagte etwas darüber, wie sie die Elemente einer Zeremonie in ihr Tun einbrachte, eine Zeremonie, die körperorientiert war.

Stefan Laeng: Es ist interessant, dass Du die Wichtigkeit von Zeremonien und Ritualen erwähnst und wie Sensory Awareness und Charlotte daran Anteil hatten, weil…

Yvonne Rand: Das war Suzuki Roshi´s Sichtweise.

Stefan Laeng: …Charlotte vermied Zeremonien und Rituale.

Yvonne Rand: Naja, sie tat es und tat es auch nicht. Man könnte argumentieren, dass ein Essen auf der Terrasse bei ihrem Haus in Muir Beach – unter dem Deckmantel, ‘lasst uns zusammen essen’ – alles von einem Ritual oder einer Zeremonie hatte. In meiner Wahrnehmung waren eine Mahlzeiten mit Charlotte und Charles eine heilige Praxis, eine spirituelle Praxis. Das war mir sehr klar. Das war eine der Sachen, die ich an Charlotte so geschätzt habe. Weil ich fühlte, es gab da eine Art und Weise in der Suzuki Roshi – wie soll ich sagen? Ich fühlte, dass er immer präsent war, wenn ich zu ihrem Haus dort oben ging, um mit Charlotte und Charles zu essen. Ich glaube, Suzuki Roshi hätte das gemocht. In gewissem Maße war es auch die Art, wie Charlotte ihr Haus eingerichtet hatte, wie sie Kleider trug, all die Dinge, die sie während ihres Unterrichts tat und wie sie den Arbeitsraum gestaltete. Da war immer ein rituelles Element mit dabei.
Außerdem glaube ich, dass Charlotte vielleicht die erste Person war, die es aushielt, wenn auf dem Esstisch nicht alles zusammen passte. Die Teller stimmen nicht notwendigerweise überein, das Silberbesteck passte mit Sicherheit nicht zusammen. Die Servietten passten oder passten eben nicht. So war auch dies eine Art Spiel. Ich habe nie erlebt, dass sie einer Notwendigkeit von Perfektion anhing. Sie wollte wirklich Raum geben für das Besondere in jedem Menschen. Diesen Sinn für Einzigartigkeit verkörperte sie wirklich, denke ich.

Stefan Laeng: Ja, auch wenn es schien, als wäre es egal, ob Dinge zusammen passten oder nicht, geschah das nicht aus Gleichgültigkeit.

Yvonne Rand: Es war nicht chaotisch. Das Ergebnis war immer harmonisch. Sie hatte einen ausgeprägten Sinn für die Inszenierung. Und ich glaube, dass dieser Sinn für Ästhetik den Charlotte kultivierte, für Suzuki Roshi einfach passte. Da spürte er eine wirkliche Verwandtschaft mit ihr. Diese gemeinsame Begeisterung war ein echtes Geschenk für ihn, eine Form von Freundschaft. Ich glaube, dies war einer der Gründe, warum er so wohlwollend war und scharf darauf, dass sie seine Schüler*innen unterrichtete.

Kürzlich dachte ich an ein Sesshin mit Suzuki Roshi und dabei kam mir auch Charlotte in den Sinn. Er sagte zu mir: „Es ist richtig, dass ich manchmal der Lehrer bin und Du die Schülerin. Aber es ist genauso wahr, dass Du manchmal die Lehrerin bist und ich der Schüler“. Ungefähr ein Jahr zuvor fuhr ich ihn nach einem Thanksgiving Essen von Tassajara zurück. Wir kamen im Sokoji (der Tempel in San Francisco) ungefähr um Mitternacht oder ein Uhr morgens an. Er schlief die ganze Fahrt. Das war normal für ihn. Und natürlich wachte er frisch wie der Frühling auf und fing an, mir eine Unterweisung in Vertrauen zu geben. Es begann mit, „Ich vertraue niemandem“. Er machte sich Sorgen über seine Schüler*innen, weil er fühlte, dass sie so sehr danach verlangten, ihm zu vertrauen. Und er sagte: „ Aber ihr seid auf dem Holzweg. Manchmal bin ich vertrauenswürdig und manchmal nicht. Wie wäre es, wenn Ihr Euch selbst vertraut? Weshalb projiziert ihr das auf mich?

Charlotte hatte einen bestimmten Hang zum – das Wort was mir einfällt passt nicht ganz – einen Hang zum Unfug. Eine Vorliebe zum ungezogen sein, etwas frech und spielerisch, so wie er auch.

Ich fuhr Suzuki Roshi oft nach Tassajara. Und einmal, auf der Höhe des Bergrückens, bevor wir nach Tassajara runterfuhren, auf der anderen Seite eines Stacheldrahtes, wuchsen Farne auf der Weide. Sie waren noch jung und eingerollt, man nennt sie dann Becherfarn/Straußenfarn. In diesem Stadium sind sie in Japan eine echte Leckerei. Suzuki Roshi sagte: „Yvonne, stop. Halt an“. Und er zeigte rüber und sagte: „Ich möchte, dass Du mir so viele davon holst, wie nur möglich. Hast Du etwas, wo Du sie reintun kannst?“ Und ich erwiderte: „Aber Suzuki Roshi, da steht ein großes „Kein Durchgang“ Schild“. Er sagte: „Ignoriere es!“

Stefan Laeng: Ich lache, weil ich mit Charlotte ganz genau solche Dinge tat.

Yvonne Rand: Genau. Das ist es, was ich meine. Beide hatten diesen Schalk. Er stellte also seinen Fuss auf den Stacheldraht, so dass ich durchrutschen konnte und dann ging er zurück und setzte sich ins Auto, kurbelte das Fenster runter, gab mir Anweisungen, wann es genug sei. Das war als ich so gut wie den gesamten Farnbestand dezimiert hatte. Und dann sagte er: „Ok, wir müssen nun schnell nach Tassajara. Fahr so schnell zu kannst“. Und dann ging er direkt in die Küche und machte Becherfarn/Straußenfarn Suppe. Er hat sich so riesig gefreut, dass er es kaum aushielt.

Stefan Laeng: Das hätte Charlotte sein können.

Yvonne Rand: Ja. Ich glaube, es ist – wie soll ich sagen? Als Suzuki Roshi den Farn sah, gab es diese spontane Begeisterung, einen Enthusiasmus und eine Erregung – er hat fast gesabbert, so begeistert war er. Ich denke, in dieser Art von sich körperlich äussernder Begeisterung waren sie sich sehr ähnlich.

In Bezug auf meine eigene Unterweisung als Zen-Lehrerin werde ich von Traditionalisten gerne als Eklektikerin gesehen aber das ist meiner Meinung nach absolut nicht zutreffend. Irgendwie gibt es diese Vorstellung, in der die japanische Zen-Tradition als vom Körper entkoppelt missverstanden wird. Die Arbeit von Charlotte und Charles hatte daran Anteil, dass Zen in Amerika sich dem somatischen Bereich öffnete, dass die Aufmerksamkeit wieder im Körperlichen, in den Sinnen verankert wurde und zwar auf eine Weise, die aus Europa kam, nicht aus Asien.

Stefan Laeng: Würdest Du also sagen, dass was Du von Charlotte gelernt hast, sich heute in Deiner Arbeit auswirkt?

Yvonne Rand: Unbedingt. Charlotte half mir zu verstehen, dass insbesondere für uns Westler, die wir so enorm viel Betonung auf’s Denken legen und Erfahrungen auf körperlicher Ebene gerne missachten oder herabsetzen, es wichtig ist zu erkennen, wie verlässlich Körperempfindungen sind, so wie es das Denken zwar sein kann aber oft nicht ist. Sie machte es mir möglich die Erfahrung zu wertschätzen, wenn Du Geh-Meditation machst und Deine Füsse tatsächlich mit dem Boden in Kontakt sein läßt. In diesem Zusammenhang denke ich wirklich an Charlotte. Die Wahrnehmung beim Gehen die Bewegung der Luft im Raum zu spüren. Viele Meditierende sind so in ihrem Kopf, dass sie sich wundern, wenn du sowas sagst. Worüber redest Du? Ich glaube, dass die Essenz von Charlottes Arbeit darin lag, allem unsere Aufmerksamkeit durch die Sinne zu schenken. Und die Tatsache, dass sie aus ihrer eigenen Erfahrung als Westlerin und aus einer westlichen Tradition schöpfte, ist von grosser Wichtigkeit für mich.
Ich denke, dass sie eine wichtige Person für diejenigen von uns war, die die Chance hatten mit ihr arbeiten zu dürften und gleichzeitig Zen zu praktizieren. Auf eine Weise brachte ihre Arbeit alles zum Leben. Es gab es bei ihr keine Chance in Starrheit zu verfallen.

Charlotte Selver wurde 1901 in Ruhrort/Duisburg geboren. Ab 1921 hat sie sich bei Rudolf Bode zur Lehrerin der Ausdrucksgymnastik ausgebildet. Nachdem sie 1923 die Berliner Gymnastiklehrerin Elsa Gindler kennenlernte, hat sich ihre Arbeit tiefgreifend verändert. Gindler entwickelte in der Zeit zusammen mit dem Musikpädagogen Heinrich Jacoby eine Arbeitsweise, die sich von vorgegebenen Übungen löste und die Schüler*innen in Arbeitsgemeinschaften zu einem probierenden Erforschen ihres Verhaltens aufforderte, um so ihr Potential autonom und authentisch zu entwickeln. Charlotte Selver hat diesen Ansatz übernommen und ihn sich über viele Jahrzehnte zu eigen gemacht. Als Jüdin musste sie 1938 Deutschland verlassen und hat sich in den USA einen Namen als Pionierin des “Human Potential Movements” gemacht. Sensory Awareness, wie sie ihre Arbeit nannte, war ab den 1950er Jahren von bedeutendem Einfluss auf viele heute bekanntere somatische Arbeitsweisen. Ihre Begegnung zu dieser Zeit mit führenden Lehrern des Zen in den USA hat sowohl sie wie auch die Entwicklung des Buddhismus im Westen geprägt. Charlotte Selver starb 2003 in Muir Beach, Kalifornien.

Das San Francisco Zen Center wurde 1962 von Shunryu Suzuki Roshi (1904 – 1971) und seinen amerikanischen Schüler*innen gegründet. Suzuki Roshi, ein japanicher Zen-Priester der Soto Linie, kam 1959 im Alter von 54 Jahren nach San Franzisko. In Japan ein respektierter Zen-Meister, war er beeindruckt von der Ernsthaftigkeit und Qualität des „Anfänger Geists“ der zen-interessierten Amerikaner, die er traf und entschied sich zu bleiben. (Von der Webseite des San Franzisko Zen Center. Mehr Infos unter: www.sfzc.org)

Yvonne Rand ist Meditationslehrerin und „Laien-Haushälterin“ Zen-Priesterin in der Soto-Zen Tradition. Sie begann mit ihrem Studium und der Praxis des Zen mit Suzuki Roshi im Jahr 1966 und wurde Dharma-Nachfolgerin von Dainin Katagiri Roshi. Yvonne war Sekretärin des San Franscico Zen Center in den ’60ern, Vorsitzende in den ’70ern und Vorstandsvorsitzende in den ’80er Jahren. Weitere wesentliche Lehrer*innen waren Maureen Stuart Roshi, Seine Heiligkeit der Dalai Lama, der ehrwürdige Tara Tulku und Shodo Harada Roshi. Ihre hauptsächliche Praxis ist das Zen, bereichert durch die Praxis und die Unterweisungen der Theravada Tradition und Vipassana. Yvonne Rand läßt auch Einsichten der psychotherapeutischen Traditionen in ihre Arbeit einfließen. Gleichzeitig erforscht sie die Bedeutung der Kunst und des Gärtnerns als Geistestraining. Sie ist verheiratet, ist Mutter und Gärtnerin. (Weitere Infos unter: www.goatintheroad.org)

Das Original Interview (englisch) und weitere Infos zum Charlotte Selver Oral History and Book Project von Stefan Laeng unter: www.charlotteselverbook.org

Zur Sensory Awareness Arbeit mit Stefan Laeng: www.pathwaysofsensoryawareness.com

Zen & Sensory Awareness Workshop mit Stefan Laeng vom 19.10. – 21.10.2018 in Hesseln/Leubsdorf (bei Bonn): www.zen-sensoryawareness.de

Während Zen uns eine ausgereifte Form vorgibt, in der wir uns erforschen und vergessen können, lädt Sensory Awareness uns ein, durch tastendes Probieren zu entdecken, wie etwas sein will.